11. Erinnerungen

300 13 0
                                    

Harry hatte sich dazu entschlossen, Draco auch weiterhin zu helfen. Noch schlimmer, als für etwas verantwortlich gemacht zu werden, wofür er eigentlich gar nichts konnte, war es, nichts zu tun; es gar nicht erst zu versuchen. Er hatte noch lange über Hermines Worte nachgedacht und je länger er überlegt hatte, desto sicherer war er sich mittlerweile selbst, dass es keine allzu gute Idee war, Draco zu helfen. Er war sich relativ sicher, dass er es bereuen würde, doch wenn er nicht versuchen würde, ihm zu helfen, dann würde er sich selbst nicht mehr im Spiegel betrachten können. Also musste er abwägen, was wichtiger war, und er entschied, lieber sein Gesicht zu wahren und möglicherweise mit einer weiteren Schuld auf den Schultern zu leben. In schlechten Momenten dachte er bloß, dass es auf diese zusätzliche Last nun auch nicht mehr ankam.

Es war gut gewesen, Hermine die Wahrheit zu verraten, denn obwohl sie die Idee nicht guthieß, dass Harry dem Slytherin weiterhin half, sorgte sie dafür, dass er die nötige Deckung bekam, um sich fortan jeden Abend wegzuschleichen, um mit Draco auf dem Astronomieturm zu üben. Schnell fiel ihnen jedoch auf, dass sie sich wilde Lügenmärchen sparen konnten, denn Ron sollte das alles recht sein. Seit er mit Hermine zusammen war, galt seine Aufmerksamkeit fast nur noch ihr. Das wiederum sollte auch der klugen Granger ganz recht sein, sodass die zwei Turteltauben die Abende liebend gerne zu zweit verbrachten. So war Harry problemlos aus dem Schneider.

Weniger problemlos war die Tatsache, dass Harry bereits beim vierten Training an seine Grenzen stieß. Er musste erkennen, dass die oberflächlichen Emotionen, die er ans Tageslicht brachte, längst nicht ausreichten. Dieser Zauber benötigte starke, heftige Emotionen. Er musste seinem Unterbewusstsein einen Zugang zu Gefühlen gewähren, die er lange Zeit tief in sich verschlossen hatte.

Es war ein stürmischer Abend dort oben auf dem Astronomieturm. Harry und Draco hatten sich einen kleinen Kessel mit hinaufgebracht, in dem bereits ein Heilzaubertrank enthalten war. Dieser Trank hatte im üblichen Zustand eine leicht rötliche Farbe. Wenn der Verstärkungszauber wirkte, dann sollte sich die Farbe in ein sattes Türkis ändern. Draco nahm den Deckel vom Kessel, legte diesen beiseite und stellte sich neben Harry, der die Schultern straffte, seinen Zauberstab erhob, tief einatmete, und sich dann auf eine Reise in sein Inneres begab, die er noch bitter bereuen sollte.

Erinnerungen zuckten vor seinen geschlossenen Augen hervor, wie Blitze. Er sah sich selbst im Hogwarts-Express, an seinem allerersten Tag. Hermine und Ron waren bei ihm und sie lachten über Rons klägliche Zauberversuche. Das Bild vor seinem inneren Auge änderte sich, und plötzlich lag Hermine vor ihm auf dem Boden. „Mudblood" war in ihre Haut geritzt. Eine einzelne Träne lief aus ihrem Augenwinkel. Harry wollte schreien, doch seine Lunge ließ keine Luft hindurch. Wieder änderte sich das Bild. Er sah Cedric, der getötet wurde. Harry drehte den Kopf zur Seite und sah ihn. Er blickte Voldemort direkt in die Augen und verspürte eine Angst, von der er gehofft hatte, sie nie wieder zu spüren. Voldemort verwandelte sich in dunklen Nebel und schwebte auf ihn zu. Harry konnte sich nicht vom Fleck bewegen; bekam keine Luft mehr, rang nach Atem und mit einem einzigen Atemzug hatte er Voldemort eingeatmet. Ein Ruck ging durch seinen Körper, er öffnete die Augen und sah sein Mutter vor sich. Sie kniete vor einem Kinderbett und weinte. Harry wollte zu ihr stürzen, wollte sie in den Arm nehmen und ihr versprechen, dass alles gut werden würde, doch alles was er sah, war eine blasse, rechte Hand, die einen Zauberstab hielt, der definitiv nicht ihm gehörte. Ein leises Lachen ließ ihn sofort wissen, was geschah: Er befand sich in Voldemorts Körper. Er war Voldemort. Er blickte seiner todgeweihten Mutter in die Augen, sah ihren Schmerz, ihre Angst und die Pein, doch er konnte nicht wegschauen; er konnte seinen Blick nicht abwenden! Die Hand, die den Zauberstab hielt, erhob sich und holte aus. Harry wusste, was geschehen würde, doch er konnte nichts tun. Anstelle von dem Flehen, welches sich in seinem Brustkorb aufstaute, hörte er einen lauten Schrei: „Avada Kedavra!" Dann ein Blitz, so hell, dass er die Augen schließen musste. Er sah seine Mutter kurz erstarren, dann wie eine leblose Puppe zu Boden fallen, die Augen weit aufgerissen. Der Schmerz zerriss Harrys Herz; er holte tief Luft und schrie so laut, dass Voldemorts Körper von ihm wegbrach. Tausende kleine Blitze durchzuckten sein Inneres und brachten ihn zurück in die Realität, in der er mit einem lauten Schrei eine türkise Flamme in den vor sich stehenden Kessel feuerte. Die dadurch erzeugte Gegenwucht schleuderte ihn mehrere Meter zurück, sodass er gegen das eiserne Geländer der Aussichtsplattform prallte und zu Boden fiel.

Der EisprinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt