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Revali


Nio steht am Rand des Abgrunds und schluckt. Sein Gefieder plustert sich vor Schock zu gewaltiger Größe auf. Abrupt schüttelt er den Kopf und weicht einige Schritte von der Kante zurück.

Stolz stehe ich da, beobachte amüsiert Nios Reaktion. Heute ist der Tag, an dem ich meinen Kindern das Fliegen beibringen werde. In den vergangenen Monaten haben sie schon erste Flugversuche unternommen und ich finde, nun ist es an der Zeit, dass sie ihre erste Flugstunde absolvieren. Bei Nio wirkte es schon recht ordentlich, wenn er anfing, in die Luft zu springen und mit den Flügeln zu schlagen. Was Nakari anbelangt, bei ihr mache ich mir mehr Sorgen. Im Gegensatz zu uns Orni, besitzt meine Tochter sechs Glieder, zwei Beine, zwei Arme und zwei Flügel. Bei mir fungiert ein Flügel, wie ein Arm und umgekehrt. Doch Nakaris Flügel funktionieren unabhängig voneinander. Die Kleine hat schon öfters probiert mit ihren zierlichen Flügelchen zu flattern, aber ich weiß nicht so recht... Ihre Flügel erscheinen mir noch nicht kräftig genug und ich bin mir auch nicht so sicher, wie ich ihr das Fliegen am besten beibringen soll, da ihre Anatomie so anders ist als die meine.

Aus diesem Grund habe ich mich dazu entschieden, Nio den Vortritt zu lassen, denn ich bin davon überzeugt, dass es ihm leichter fällt. Allerdings ziert er sich, wie jedes andere Küken in seinem Alter auch, das zum ersten Mal fliegen wird.

Mit verschränkten Flügeln schreite ich auf meinem Sohn zu. Väterlich lächelnd blicke ich auf ihn hinab. Vielleicht hilft es ihm ja, wenn ich ihm etwas Mut mache.

»Vor vielen Jahren bin ich auch hier gestanden, auch ich hatte Angst, aber wenn man seine Ziele erreichen will, muss man seine Angst überwinden. Ich weiß, dass du es schaffen kannst«, rede ich meinem Sohn gut zu.

Doch Nio blickt mich ganz verängstigt aus seinen großen, braunen Augen aus an. »Aber Papa, da geht es so tief runter. Was wenn ich nicht fliegen kann und falle?«

»Dann fange ich dich auf«, versichere ich meinem Kleinen.

»Und wenn du mich nicht rechtzeitig fängst?« Seine Stimme klingt ziemlich hoch.

Es bleibt von mir nicht unbemerkt, dass er am gesamten Leib zittert. Sein Gefieder hat sich immer noch nicht angelegt. Er sieht aus, wie ein plüschiger Federball.

»Das wird nicht passieren. Ich werde es bemerken, wenn du dich nicht oben halten kannst. Aber für den Fall der Fälle würdest nur in den See fallen. Dir kann nichts geschehen.«

Meine Worte scheinen Nio allerdings keines Wegs zu beruhigen. »Aber ich will nicht in den See fallen. Ich kann nicht schwimmen, ich werde ertrinken.«

Prompt verdrehe ich die Augen und widerspreche ihm. »Nein, wirst du nicht! Ich werde dich aus dem See fischen. Aber das wird sowieso nicht passieren, schließlich hätte ich dich dann vorher schon längst aufgefangen.«

Ich muss schmunzeln, während ich seine leicht panische Gestalt betrachte. Teba hat vor Jahren genauso reagiert. Meinen Bruder habe ich einfach einen Schubs gegeben. Er ist schreiend dem See entgegengefallen und schließlich hat er so das Fliegen gelernt. Allerdings war er danach so sauer auf mich, dass er tagelang nicht mit mir gesprochen hat. Über ein Jahrzehnt später habe ich dasselbe mit seinem Sohn gemacht. Tulin wollte, dass ich ihm helfe. Er wollte sich vor seinem Papa nicht blamieren. Allerdings blieb das unter uns. Außer Shania, der ich davon erzählt habe, weiß niemand davon, dass ich Tulin heimlich das Fliegen beigebracht habe. Bei meinem Sohn allerdings werde ich nicht so verkehren. So ängstlich, wie mein Söhnchen gerade wirkt, würde ich ihm damit nur das Vertrauen in mir nehmen. Außerdem steht Shania hinter mir. Würde ich unseren Sohn über den Rand schupsen, würde sie wahrscheinlich nie wieder mit mir reden.

Soulhunter - Specialbook - Revalis Children (Revali x Shania)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt