Kapitel 6

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"Beeile dich, Rachel. Ich will Mr. Mullan nicht unnötig warten lassen."

Rachel Clarke lief ihren Bruder Cedric hinterher, doch während Cedrics Schritte denen eines ausgewachsenen Pferdes glichen, bewegte sie sich, trotz den umgekrempelten Hosen, eher wie einem Wombat, diese kugeligen Tiere, die man hier auf dem neuen Kontinent immer wieder traf. Noch einmal rückte sie sich die Mütze zurecht, unter dem sie ihr langes Haar versteckte. Wenn sie die Mütze tief ins Gesicht zog, ging sie bestimmt als Junge durch.

"Du sollst mich Carl nennen.", wies sie ihn mit tiefer Stimme zurecht. Für sie war es zumindest tief und sie strengte sich so sehr an, dass ihr Hals kratzte und schmerzte.

Cedric lachte laut.

"Als ob mir jemand glauben würde, dass du ein Junge bist." Er schnaubte. "Vater bringt mich um, wenn er erfährt, dass ich dich mit in ein Sträflingslager genommen habe."

Das wusste Rachel selbst, aber sie hatte es in der Gesellschaft dieser hochnäsigen Schnepfen nicht mehr ausgehalten. Diese Töchter dieser hohen Offiziere, die den ganzen Tag mit Singen, Sticken und Piano spielen verbrachten und über sie, ein Göre, die in England schon vom Land kam und dessen Stand sich in Australien nicht unbedingt gebessert hatte, nur böse Worte verbreiteten. Einzig ihr Bruder Cedric, der in ihren Augen wohl eine sehr gute Partie war, konnte sie es verdanken, dass diese Gören Rachel nicht mit Schimpf und Schande aus ihren erlauchten Kreis verstießen.

Rachel musste ihnen in gewisser Weise Recht geben. Sie fühlte sich auf der Farm, die ihr Vater aus dem Nichts erschaffen hatte, wohler, als in Sydney. Rachel wusste noch, wie enttäuscht sie war, als sie vor zwei Jahren das erste mal Sydney zu Gesicht bekommen hatte. Damals war es nicht mehr als eine kümmerliche Siedlung aus Zelten und windschiefen Hütten. Rachel war froh, als ihr Vater, der schon einige Zeit vorher hier angekommen war, sie auf die Farm brachte. Auch hier war alles noch primitiv, aber durch harte Arbeit wurde aus der kleinen Hütte ein großes Haus, in dem sie nun lebte.

Sie ritt lieber morgens auf ihrer Stute, die sie von England mitbrachte, über die kargen Wiesen, die erst wieder seit der Regenzeit grün sprießten. Sie kümmerte sich lieber mit ihrer Mutter um die Lämmer und half Cuin Mullans Frau Megan zu kochen. Mit ihren sechzehn Jahren las sie auch lieber ein Buch, als sich mit wenig Wissen zufrieden zu geben, wie es sonst hier üblich war. Aber ihr Vater bestand darauf, dass sie sich zumindest alle zwei Monate mit den Töchtern aus gutem Haus traf. Zu diesem Zweck hatte er ihr auch Kleider anfertigen lassen und sie musste mit einem Spitzentaschentuch in der Hand durch die Gegend gehen, obwohl sie den Sinn darin nicht ganz verstand, da sie keinen Tropfen Schweiß schwitzen durfte, da es wohl sehr unschicklich war.

Sie konnte also gerne auf die Gesellschaft dieser verwöhnten Gören verzichten. Deswegen schickte sie heute morgen eine kleine Nachricht, dass sie unpässlich sei und hatte sich von Cedric eine Hose, ein Hemd und eine Mütze geliehen. Es bedurfte keiner großen Anstrengung ihren Bruder dazu zu überreden, denn genau wie ihr Vater, verwöhnte Cedric seine kleine Schwester sehr gerne und schlug ihr kaum einen Wunsch aus. Zuerst lehnte er zwar kategorisch ab, doch Rachel konnte in der Hinsicht sehr erfinderisch mit Argumenten sein und bedarf nur einer kurzen Diskussion, bis Cedric klein beigab und sie in das Straflager mitnahm, um neue Sträflinge zu holen, die ihrem Vater zugesprochen wurden.

"Du solltest dich immer daran erinnern, dass du ein Kerl bist und kein kleines Mädchen. Und bete, dass Cuin dir nicht den Hosenboden stramm zieht und dich sofort wieder in unser Haus schickt."

Rachel schluckte hart.

Cuin Mullan war die einzige Unbekannte in ihrer Gleichung. Der verschlossene Ire, der seit dem ersten Tag ihrem Vater hier auf den neuen Kolonien zur Seite stand, hatte dadurch auch das Vertrauen ihres Vaters und er zögerte auch nicht, sie in ihre Schranken zu weisen.

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