Prolog

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Wie lange hatte er sich vor diesem Augenblick gefürchtet. Wie lange hatten er und Jasper auf all das hingearbeitet. Ihnen beiden war schon immer klar gewesen, welchen Weg sie nach ihrem Abschluss einschlagen wollten: US Army. Mit Auszeichnung beendeten sie im Alter von 23 Jahren ihre Grundausbildung, um danach drei Jahre ihrem Land zu dienen. Zahlreiche Auslandseinsätze hatten sie beide noch näher zusammengeschweißt. Sie hatten dem Tod so viele Male ins Gesicht geblickt, hatten ihm getrotzt und ihn ihren Feinden mit auf den Weg gegeben. Nach der Army absolvierten Japser und Alec die Grundausbildung beim Federal Bureau of Investigation. Sie zeichneten sich durch viele Fähigkeiten ausgezeichnet heraus. Durch ihre unglaublich schnelle Auffassungsgabe wurden beide im Alter von 25 Jahren Mitglied einer Spezialeinheit mit Fokus auf Menschenhandel, insbesondere Kinderhandel. Das lag nun fünf Jahre zurück. Jasper und Alec hatten erneut Bekanntschaft mit dem Tod gemacht. Doch diesmal hatte er eine widerwärtige, verstörende Maske, die ihren Verstand nie ganz verlassen mochte. Alec hatte in jungen Jahren immer gewusst, dass er Polizist werden wollte. Er wollte Menschen helfen. Er hatte psychologische Betreuung nach einschneidenden Ereignissen immer für Zeitverschwendung gehalten. Hatte nie ganz nachvollziehen können, weshalb so viele Ermittler an ihren Jobs zugrunde gingen. Sie hatten doch gewusst, was auf sie zukommen würde? Hatte wie ein naiver Teenie alle Fälle in den Nachrichten verfolgt und glaubte von sich, er könne den nötigen Abstand halten, wenn er einmal Ermittler werden würde. Alec hatte geglaubt, dass man sich von der Last dieser Berufung abschirmen könnte. Heute wusste er es besser. Mit jedem Fall hatte er den Glauben an das Gute im Menschen ein Stückchen mehr verloren. Mit jedem Bild eines zu Tode gefolterten Sechsjährigen, mit jedem Leichenfund, mit jeder Dark-Net-Recherche nach Perversen auf zahlreichen „Auktionsseiten", mit jedem Türklingeln bei dem er wusste, er würde wieder ein Familienleben zerstören. Heute wusste er, dass all das keinen gesund denkenden Menschen kalt lassen würde. Alec hasste diese Gefühle. Hasste es, wenn er nachts schweißgebadet aufwachte, wohlwissend, dass gerade duzende Kinder, Frauen und Männer wie Tiere festgehalten wurden, zum Verkauf bereit. Für den Abschaum der Welt vom Abschaum der Welt. Doch wusste er auch, dass Jasper und er gebraucht wurden. Sie waren Spezialisten auf ihrem Gebiet. Ans Aussteigen war nicht zu denken. Sie wurden vom FBI geschätzt, brachten Resultate. Das dachte Alec zu mindestens. Jasper und er waren beste Freunde. Hatten alles zusammen erlebt. Alles. Jede Trennung, jede Lebenskrise, jeden Streit hatten sie gemeinsam gemeistert. Sie verstanden sich blind. Für Alec war Jasper seine Therapie. Er verstand ihn. Bei diesen Gedanken legte sich ein dicker Film um Alecs Herz. Er hatte ihn verstanden. Fünf Jahre lang hatten Jasper und er die perversesten und kranksten Menschen gejagt. Für Jasper waren es wohl fünf Jahre zu viel gewesen. Alec versuchte, gegen den Kloß in seinem Hals anzukämpfen. Er seufzte und trat zum Spiegel. Was er dort sah, verwunderte ihn nicht. Dunkle Ringe unter seinen Augen verrieten selbst einem Blinden, dass er seit Tagen nicht richtig geschlafen hatte. Alec richtete seine Krawatte und seinen Anzug. Er schloss die Augen. "Reiß dich zusammen." Er schnappte sich seine Schlüssel und machte sich schweren Schrittes auf den Weg, der ihm vorkam, wie der Gang nach Canossa. Das Ziel: die Beerdigung seines besten Freundes. Jasper Rings hatte sich vor einer Woche das Leben genommen.

Criminal Minds: Heavy HeartsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt