Vermutung

85 3 0
                                    

Alec sah noch immer schlimm aus, dachte Derek im Fahrstuhl auf dem Weg zum Büro. Seine Fliege saß wie immer perfekt. Doch Alecs Gesicht spiegelte seine letzten Wochen wider. Will hatte ihn nicht gerade zimperlich behandelt. Derek hoffte inständig, dass er wieder nüchtern war. Er fragte sich, wie das Wiedersehen mit Will ablaufen würde. Die Fahrstuhltüren gingen auf und sie machten sich auf den Weg zum Besprechungsraum. Will sah Alec schon von Weitem kommen. Er schmunzelte, als er ihn sah. Geschieht dir recht, Arschloch. Seine Schadenfreude schien niemand zu teilen. Das Team schien er geschockt. Zu Wills Genugtuung blieb JJs Miene unverändert. Er trat einen Schritt auf sie zu und legte seinen Arm um ihre Hüfte. JJ und er hatten sich in den letzten zwei Wochen fast täglich über das Geschehene unterhalten. Er hatte verlangt, dass JJ ihm alles erzählte. Jede einzelne Kleinigkeit. Zwar hatte ihn das noch wütender gemacht, doch hatte er nun das Gefühl, vielleicht damit abschließen zu können. Und JJ zu verzeihen. So weit war es noch lange nicht. Doch Will hatte für sich beschlossen, dass es das wert war. JJ hatte einen verdammt großen Fehler begangen, den Will niemals vergessen würde. Doch vielleicht konnte er ihr verzeihen. JJ war sein Traum. Mehr hatte er nie gebraucht und mehr würde er nie benötigen. Er war zuversichtlich. JJ hatte ihm die letzten zwei Wochen gezeigt, wie sehr sie ihn liebte und dass sie alles dafür tun würde, sein Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Ein Problem gäbe es da nur noch: Alec.

Alec betrat den Besprechungsraum. Ausnahmslos alle Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Alec wusste nichts zu sagen. Es sah nur beschämt drein. Er schämte sich wirklich, sein Team im Stich gelassen zu haben. Eine größere Schande kannte er nicht. So war es in der Army gewesen. So war es bei seiner alten Einheit gewesen. So war es überall: Das Team stand über allem. Komme, was wolle. Hotch ergriff das Wort: „Ich denke, Dave und Derek haben dich über den Stand der Dinge aufgeklärt. Reid und Emily waren eben noch einmal an der Schule. Reid bitte." Hotch nickte Reid zu. „Prinzipiell haben wir nicht mehr herausgefunden als die Polizei. Niemand hat etwas gesehen. In der Zwischenzeit konnte Henrys Lehrerin jedoch seine Klassenkameraden kontaktieren. Wir bekamen den Anruf auf dem Weg zum Büro. Bobby Fallon geht zwar nicht in Henrys Klasse, doch sein Bruder Liam schon. Bobby schloss gerade sein Fahrrad auf, als ein schwarzer Van anhielt und mir Henry verschwand. Henry wehrte sich. Bobby konnte keine Nummernschilder erkennen, doch erkannte er das Logo eines Paketdienstes. Das ist die beste Spur, die wir haben. Garcia ist schon dran."

JJ begann bei Reids Monolog zu weinen. Will schloss sie in seine Arme und flüsterte ihr beruhigende Worte zu. „Ein Rachemotiv können wir zu diesem Zeitpunkt nicht ausschließen. Wir wissen nicht, ob Henry explizit ausgewählt wurde, oder ob es reiner Zufall war", warf Reid gedankenverloren in den Raum. Er sah mitgenommen aus. Doch das musste Alec gerade sagen. Er war überrascht gewesen, dass sein Herz ruhig geblieben war, als er JJ wiedergesehen hatte. Alles war es jetzt noch fühlte, wenn er sie ansah, waren Schuldgefühle. Alec geisterten Hunderte Antworten auf die Frage, wieso Henry einführt wurde, im Kopf herum. Er traute sich nicht, das Wort zu ergreifen.

Zu Alecs Erleichterung berat Garcia wenige Sekunden später den Raum. In der Hand hielt sie ihr Tablet in der anderen einen ihrer kitschigen Kugelschreiber. Als sie Alec sah, stockte kurz ihr Atem: „Oh, Alec" doch riss sie sich im nächsten Moment wieder zusammen und konzentrierte sich aus das Wesentliche: Henry. „Ich hab' das mit dem Van überprüft. Der vermutliche Paketdienst vermisst keinen ihrer Wagen. Unglücklicherweise hat die Polizei eben einen dieser Wagen ausgebrannt an einem Parkplatz am Jefferson Davis Highway gefunden. Von Henry und den Entführern keine Spur. Auch die Überwachungskameras haben den Lieferwagen kein einziges Mal aufgezeichnet. Anscheinend kannten die Entführer die unbewachten Straßen." Diese Nachricht versetzte allen einen Stich. Alec wusste, was nun zutun war: Abwarten. Entweder würde sie eine Lösegeldforderung erreichen, oder, und das war Alecs größter Albtraum, Henry war aus reinem Zufall Opfer von eben den Kerlen geworden, die Alec jahrelang gejagt hatte: Menschenhändler. Alec schloss direkt aus, dass Henry aus Rache entführt wurde. Dazu schien ihm die Vorgehensweise zu clever. Die Schule war das Ziel gewesen, doch eine bestimmte Zielperson schienen sie nicht gehabt zu haben. Wäre Will pünktlich gewesen, hätten sich die Täter eben ein anderes Opfer gesucht. Bobby Fallon zum Beispiel. Außerdem kannte Alec das Vorgehen dieser Händlerbanden. Kannte ihre Netze, die auf dem ganzen Kontinent verteilt waren. Er war sich fast sicher, dass Henry in wenigen Stunden im Dark Web auftauchen würde. Nach etwas Recherchearbeit würden sie herausfinden, dass er Sohn zweier Polizisten war. Das würde seinen Preis in die Höhe treiben. Alles reine Vermutung und eine alte Gewohnheit von Alec. Er bereitete sich auf das Schlimmste vor, um auf wirklich alles vorbereitet zu sein. Alec war so tief in seine Gedanken versunken, dass er erst wieder in die Realität zurückfand, als Derek ihn anstupste.

Criminal Minds: Heavy HeartsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt