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„Es ist warm.", flüstert er aus dem Fenster blickend. Draußen fallen die bunten Blätter von den Bäumen. Die Sonne scheint und doch tragen die Leute Jacken, weil es bereits so kalt ist. Der Himmel ist klar. Er öffnet das Fenster. Nein, er hat sich nicht geirrt. Die Welt sieht goldig aus. Es wirkt wie ein Filter auf ihn. Er weiss nicht, ob es dem Sonnenlicht zu verdanken ist, oder ob die Welt versucht ihm ein Zeichen zu geben. Als würde sie sagen wollen: „Alles wird gut."

„Was hast du gesagt?", ertönt die Frauenstimme links von ihm. Er bewegt seinen Kopf nicht. Stur blickt er gerade aus und beobachtet, wie sie an der Landschaft vorbeiziehen. Dieses mal wird er nicht nachgeben.

„Brrr, kannst du nicht das Fenster schließen? Ich habe meine Strickjacke vergessen." Und er schließt das Fenster. Seinen Kopf bewegt er weiterhin nicht zu der Blondine. Mit ihrer freien Hand reibt sie sich über ihren Arm. Die andere hält mit einem lockeren Griff das Lenkrad. „Danke."

Ihm ist bewusst, dass ihr kalt gewesen sein muss. Mit ihrem pinken Tshirt und ihrer normalen Jeans kann ihr nichts anderes als kalt gewesen sein. Aber ihm ist warm. Er hält es nicht mehr länger aus. Seine dicke Jacke engt ihn ein. Er hat das Gefühl als wäre für ihn kein Platz in diesem Auto. Als würde es bald platzen. Beruhigend atmet er tief ein.

„Weisst du, du wirst es sicher lieben. Früher bist du immer gerne zu Papa für die Ferien."

Früher war vor drei Jahren. Bevor er eine neue Familie gegründet hat. Bevor er eine Halbschwester bekommen hat. Bevor ihn sein Vater vergessen hat. Er zieht seine Augenbrauen runter. Er weiss ganz sicher, dass er definitiv keinen Spaß haben wird. Warum kann sie das nicht einfach verstehen? Es verärgert ihn. Niemand achtet auf seine Gefühle. Die Erwachsenen sind alle gleich.

Seine Mutter seufzt.

Sie versteht, dass er für die Ferien bei ihr bleiben will, aber das geht leider nicht. Sie wurde kurzfristig nach Peking, China, geschickt .Dort kann sie ihn leider nicht mitnehmen. Er ist noch zu jung. Es ist die beste Option, wenn Ares über die Ferien bei seinem Vater bleibt.

Müde schaut sie ihn an. Ein kleines Lächeln macht sich ihn ihrem Gesicht breit. Auch wenn er seinen Kopf von ihr weg gedreht hat. Sie kann sich perfekt ausmalen, wie er ernst aus dem Fenster schaut. Seine hellbraunen Augenbrauen zusammen gezogen. Seine jadegrünen Augen blicken verärgert und wissbegierig auf die Landschaft. Seine kleinen Händchen halten den Anschnallgurt fest.

Langsam hebt sie ihren rechten Arm. Egal wie böse er auf sie ist, vor sechs Jahren hat sie sich geschworen ihn auf ewig zu lieben und ihn immer zu unterstützten. Sie liebt ihren Sohn unendlich und nichts wird dies ändern können.

Sie bewegt ihre Hand zu Ares. Seine noch blonden Locken- sie ist sich zu 98,8% sicher, dass sie wenn er älter wird noch braun werden- sehen so unordentlich aus, wie immer. Der Grund für diese Unordnung ist sie selbst, denn, wie jetzt auch, nutzt sie jede Gelegenheit dazu ihrem Sohn die Haare zu verwuscheln. Grinsend beginnt sie zu sprechen:

„Du weisst doch, ich liebe dich, nicht?"

Mürrisch dreht er endlich seinen Kopf zu ihr. Jedes Mal erzählt sie ihm das. Und jedes Mal kann er nicht mehr so wirklich böse auf sie sein. Er weiss, dass sie ihn liebt. Er liebt sie auch. Und das weiss sie auch. Langsam blickt er nach oben. Er möchte Blickkontakt. Irgendwie sehnt er sich danach.

Doch bevor dies geschehen konnte, bemerkt er im Augenwinkel, wie das Licht auf der Straße heller wird. Immer heller bis es ganz weiß ist. Ein langes Hupen folgt. Seine Mutter lässt einen Schrei raus, während sie instinktiv nach dem sechs jährigen greifen will, um ihn in ihren Armen zu schützen.

Das Adrenalin in seinem Körper breitet sich aus. Sein Herzklopfen wird schneller und stärker. Sein Atem flacher. Er knallt gegen das Handfach des Autos, doch spürt er keinen Schmerz. Etwas flüssiges läuft seinen Kopf herunter. Und noch bevor er irgendetwas machen konnte, schließen sich seine Augen, wie von alleine. Er schläft.


Als sein Vater erfahren hat, dass Ares im Krankenhaus ist, hat er alles stehen und liegen gelassen und ist mit dem Auto zum Stadtkrankenhaus gefahren. Er hat seine Exfrau angerufen, in der Hoffnung, dass sich die Frau von der Notaufnahme nur getäuscht hat, doch sie geht nicht an ihr Handy.

Ohne sich zu konzentrieren parkt er irgendwie seinen schwarzen BMW- es steht in einem 70 Grad Winkel auf dem fast leeren Parkplatz- und sprintet in das große Gebäude.

Die Krankenschwester erklärte ihm den Weg zu Raum 009. Ohne sich zu bedanken, beeilt er sich dort hin. Er läuft nicht, weil es ein Krankenhaus ist, aber er geht schnelle und große Schritte, weil er Sorge um seinen Sohn hat. Als er die Tür unbewusst sperr angel weit auf wirft, fällt ihm sofort das große Bett mit den vielen Kabeln auf. Auf dem Bett liegt der kleine Ares.

Ein immer wieder kehrendes Piepen erklingt im Raum. Piep, piep, piep. Die Uhr tickt auch jede Sekunde. Verängstigt läuft er die drei Schritte zum Bett und bückt sich ein wenig. Seine 1,80m große Statur zwingt ihn schon fast dazu.

Das große Bett und die vielen Geräte um sein Bett lassen ihn, wie eine kleine Maus wirken. Seine Augen sind geschlossen, so als würde er bloß ein kleines Mittagsschläfchen halten. Es ist lange her seitdem er ihm beim Mittagsschläfchen beobachtet hat. Ein großes weißes Pflaster klebt an seiner Stirn. In eines seiner Nasenlöcher sitzt ein Schlauch. Vermutlich ein Beatmungsgerät. Seine kleine Bruststeigt und sinkt langsam. Sein Körper ist bis zu seinem Oberkörper zugedeckt. Nur seine Arme sind frei.

Er war in einer Besprechung, deswegen ist er erst jetzt hier. Er war überrascht als er drei verpasste Anrufe einer unbekannten Nummer gesehen hat. Niemals hätte er erwartet, dass ihm erzählt wird, dass sein Sohn durch einem Autounfall nun im Krankenhaus liegt.

Er weiss nicht wann der Unfall stattgefunden hat. Alles was er weiss ist,...dass Ares Mutter nicht so viel Glück hatte, wie er. Dies hat ihm die Frau am Telefon so herzlos erzählt, dass er erst dachte sie würde einen schlechten Witz machen wollen. Aber nein, die Frau, die er mal unendlich liebte. Die Frau, die ihm seinen ersten und einzigen Sohn schenkte. Die Frau, die ihn einst Tag und Nacht unterstütze. Die Frau, die kämpfte und sich nicht scheiden lassen wollte, zumindest zum Wohl seines Sohnes. Die Frau, die einem Engel glich. Die Frau, in die er sich schon mit 12 Jahren verliebte, ist nun tot.

Ungewollte Tränen bilden sich in seinen kupfersulfatblauen Augen. Langsam bricht sein Körper zusammen. Er kniet sich hin und greift vorsichtig nach der rechten Hand seines Sohnes. Sie ist klein. Sein Oberkörper bewegt sich statisch auf und ab. Erst leise und dann lauter sind Geräusche der Trauer zu hören. „Sahra.", flüstert er mit gebrochener Stimme, „Was soll er nur ohne dich tun?" Er schüttelt leicht seinen Kopf. Seine dunkelbraunen Locken bewegen sich hin und her. „Was soll ich ohne dich tun, Sahra? Was?"

An diesem Abend ist ihm klar geworden, dass er Sahra irgendwo noch immer liebte.

Ares (bnha ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt