Kapitel 1

305 23 29
                                    

Es war kalt. Natürlich war es das, schließlich war es mitten im Dezember. Schnee fiel in dicken Flocken vom Himmel und bedeckte die grauen Straßen von Tokio. Der meiste Schnee war schon von hunderten kräftiger Füße zu grauem Matsch zertreten wurden, doch an seinem Platz lagen die Flocken noch als kräftige weiße Decke über dem Boden. Es überraschte ihn nicht wirklich, schließlich wollte jeder so schnell wie möglich in ein warmes, gemütliches zu Hause und auch insgesamt verirrten sich nur selten Menschen in eine abgelegene Gasse, wie diese. Seine blauen Augen huschten zurück zur Hauptstraße und musterten die vielen Menschenmassen, die sich beeilten, schnell vom Bahnhof zurück zu ihren Wohnungen und Häusern zu kommen. Manchmal schaute jemand in seine Richtung, doch genauso schnell verschwand das Interesse auch wieder. Er wunderte sich nicht über dieses Verhalten, er war es schlichtweg so gewöhnt. Man sagte ja immer, Menschen seien soziale Wesen, doch für ihn war das der größte Schwachsinn überhaupt. Trotz das fast alle Leute irgendwelche Freunde oder geliebte hatten, war sich doch jeder selbst der nächste. Jeder wollte zuerst sein eigenes Glück, bevor er an die Situation seiner Mitmenschen dachte. Der Mensch war ein egoistisches Wesen, von materiellen Dingen getrieben und süchtig nach Ruhm und Annerkennung und so würde er für ihn auch immer bleiben. Natürlich sah er das nicht immer so, als Kind sieht man alles mit anderen Augen. Man ist von allem und jedem fasziniert und glücklich zu sein ist keine große Kunst, doch je älter man wird, desto besser versteht man die Welt und ihre Schattenseiten. Die Seiten, die ihn schon sein ganzes Leben begleiteten, schließlich lebte er nicht ohne Grund auf den Straßen von Tokio, überlebte lediglich durch Diebstähle und das Mitleid anderer Menschen, welches sich in ein paar abgewetzten Münzen ausdrückte.

Vor seinen Augen bildeten sich kleine Nebelschwaden, ausgelöst durch seinen Atem in der kalten Winterluft. Rein aus Prinzip schlang er seine dünnen Ärmchen um seinen Oberkörper und kuschelte sich enger in seine alte Lederjacke, die ihre besten Tage definitiv schon hinter sich hatte und ihn mehr schlecht als Recht vor der eisigen Kälte schützte. Eine Windböe bließ ihm eine Ladung Schneeflocken ins Gesicht, was in einem weiteren Hustenanfall endete. Theoretisch musste er nicht frieren, es würde nur eine kleine Portion Konzentration kosten und schon wäre es nicht mehr kalt, doch tief in seinem Inneren wusste er, dass das keine gute Idee war. Diese Kraft insgesamt war nicht gut und er würde nicht riskieren, sie noch einmal einzusetzen. Zitternd sah er an sich hinunter. Seine ehemals schwarze Jeans war ausgeblichen und wieß zahlreiche Löcher und Kratzer auf. Sein weißes Oberteil hing schlapprig von seinem dürren Körper und ohne die Jacke, die es einigermaßen an seinem Platz hielt, wäre es sicher schon längst heruntergerutscht. Seine Schuhe sahen nicht viel besser aus. Die Sohle war an einigen Stellen durchgebrochen, der weiche Stoff war vom Regen und Schnee aufgeweicht und wo sich die Schnürsenkel befanden, wusste er schon lange nicht mehr. Sein Haar war fettig und klebte an seinem Kopf, wie Schlingpflanzen. Seine Haut war bleich, wie ein Stück Kreide und das einzige farbige an ihm waren wahrscheinlich seine vielen Narben. Außerdem war er so abgemagert, dass man vermutlich jeden Knochen und jede Rippe benennen könnte. Okay, das war vielleicht ein wenig übertrieben, aber zumindest fühlte er sich so. Er war milde ausgedrückt in einem schrecklichen Zustand und konnte sich auch nicht vorstellen, dass er eine wahre Augenweide darstellte.

Sein Blick fiel zurück richtung Bahnhof, wo allmählich die letzten Menschen ihren Heimweg antraten. Es war nichts besonderes, jeden Tag beobachtete er das selbe Spektakel, doch heute war etwas anders. Nein, nicht etwas, sondern jemand. Die Gestalt hatte gleich auf den ersten Blick seine Aufmerksamkeit ergattert, was wohl daran lag, dass sie sich so extrem von der Masse unterschied. In dem öden grau, welches er jeden Tag zu Gesicht bekam, stachen die strahlend helle Kleidung und dieser selbstsichere Gang sofort heraus. Viele der Leute hier hatte er schon mindestens einmal gesehen, wie sie zur Arbeit und wieder zurück gefahren waren, doch er konnte sich nicht daran erinnern, diesen Typ schonmal erblickt zu haben. Trotz der selbstsicheren Haltung wirkte er ein wenig verloren hier. Sein Blick wechselte immer wieder zwischen seinem Handy und seiner Umgebung, als würde er etwas suchen. Er war anscheinend wirklich neu hier. Vermutlich irgendein Tourist, der sich trotz der derzeitigen..."Umstände" hierher verirrt hatte. Er ging ein wenig weiter, schaute sich dabei immer wieder suchend um und blieb schließlich mit dem Blick auf ihm hängen. Eine Weile musterten sie sich einfach nur gegenseitig. Es war schwer, aus der Entfernung irgendwelche Details zu erkennen, doch es war klar, dass sie sich gegenseitig anstarrten. Als der Mann sich schließlich erneut in Bewegung setzte, entspannte er sich wieder ein wenig. Naja, zumindest bis er merkte, in welche Richtung der Fremde lief. Warte, wieso kam er direkt auf ihn zu und warum starrte er ihn dabei so schamlos an? Das war ein Missverständniss, ganz sicher! Es musste einer seiner! Der Kerl hatte bestimmt nur etwas in seiner Umgebung angeschaut, doch mit jedem Schritt kam er weiter auf ihn zu. Er fühlte, wie Nervösität seinen Rücken hinauf kroch und sich schwer wie Blei auf seine Schultern legte. Ein schrecklicher Gedanke blitzte in seinem Verstand auf und jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an. Was wenn man ihn für eine Straßenhure hielt? Bei dem Gedanken wurde seine Haut noch kälter als zuvor und eine Gänsehaut kroch seine Glieder hinauf, während er fühlte, wie sich seine Haare aufstellten. Nein, hier waren noch andere Leute! Es war noch hell genug um ihn zu erkennen! Er müsste nur um Hilfe rufen, dann wäre er gerettet! Es ist nicht wie damals, es ist nicht wie damals!

Your Power (Dabihawks)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt