Eine schlaflose Nacht

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Ich sitze in meinem Klassenzimmer, während sich meine Gedanken überschlagen.
Was mache ich denn jetzt bloß?!
Sofort nachhause fahren? Zu meinen Eltern? Das kann ich nicht! Ich habe doch gerade erst hier angefangen.
Aber wenn sie mir etwas antut?
Andererseits sah sie nicht sehr gefährlich aus. Und wie ein polterndes Ungeheuer hat sie sich auch nicht benommen...
Okay, ganz ruhig. Atme tief durch.
Ich befolge brav meine eigenen Anweisungen und atme tief ein und aus, während ich scharf nachdenke.
Soll ich Olivia davon erzählen?
Nein, mit hoher Wahrscheinlichkeit wird sie mich für durchgedreht halten.
Oder Mrs. Scott?
Aber die hat mich ja schon beim ersten Mal nicht ernst genommen. Warum sollte sie es jetzt tun?
Was ist mit meinen Eltern? Ich muss sie sofort anrufen!
Ich habe schon mein Handy aus der Tasche gezogen und entsperrt, als ich es dann doch sinken lasse.
Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mir nicht glauben würde.
Wer würde das schon ?
Ein Psychotherapeut vielleicht...
Stöhnend vergrabe ich mein Gesicht in meinen Händen und massiere meine Schläfen.
Warum ich?! Warum muss das ausgerechnet mir passieren?!!
Einmal wenn ich nichts als Ruhe und Gelassenheit suche?
Ich verharre noch einen Moment in dieser Position, doch als ich meine Augen wieder öffne, kann ich zwischen meinen Handflächen hindurch auf die Bänke der Mädchen sehen und auch auf die dort zurückgelassen Bücher.
Bücher!
Ich springe auf.
Natürlich! Wenn ich schon nichts brauchbares im Internet finde, dann vielleicht in der schuleigenen Bibliothek!
Sofort packe ich meinen Sachen in meine Tasche und verlasse eilig mein Klassenzimmer. Trotz der Hektik vergesse ich diesmal nicht es abzusperren.
Gott bewahre, ich werde nicht ein einziges Mal mehr nachts durch die Gänge laufen, wenn hier ein verdammtes Gespenst herumspukt!
So schnell ich kann ohne zu rennen, laufe ich durch die hallenden Gänge und komme dabei an einigen Schülerinnen im Freizeitoutfit vorbei, die gerade auf den Weg nach unten in den Keller sind. Wie Olivia mir gezeigt hat, gibt es dort sogenannte Aufenthaltsräume für die Schülerinnen, mit Kickern, Billardtisch, Dartscheibe und so weiter. Sogar ein klitzekleines Kino mit 20 Plätzen hat dort einen Platz gefunden.
Wenn ihr wüsstet, wer hier noch unterwegs ist, würdet ihr nicht so unbeschwert in den Keller gehen, denke ich finster und laufe schnell weiter.
Nach einigen Minuten stehe ich dann endlich vor der großen Schwingtür zur Bibliothek und trete leise ein.
Die ältere Bibliothekarin, Miss Williams, hebt missbilligend den Blick von ihren Unterlagen, doch als sie mich sieht, wird ihr Gesichtsausdruck sogleich freundlicher.
„Wenn Sie mich brauchen, kommen Sie einfach zu mir", flüstert sie mir im Vorbeigehen zu und ich nicke dankbar, obwohl ich genau weiß, dass ich sie nicht brauchen werde.
Die Bibliothek ist wirklich ein sehr hübscher Ort hier in St. Rednor. Der gesamte Boden ist mit einem roten, dicken Teppich ausgelegt und die Bücher stehen ordentlich sortiert in hohen Regalreihen aus dunklem Holz. Ein langer Mittelgang erstreckt sich über mehr als 20 Meter und von den hohen Decken hängen dimmbare Lampen herunter. Im vorderen Bereich, ganz in der Nähe von Miss Williams' Schreibtisch stehen einige Tische und Stühle, an denen sogar ein paar Schülerinnen sitzen und leise vor sich hin arbeiten.
Auf Zehenspitzen schleiche ich an ihnen vorbei und verschwinde zwischen den Regalreihen.
Mein Ziel sind die Sachkundebücher. Denn dort, so hoffe ich jedenfalls, werde ich wichtige Informationen über St. Rednor und seine Erbauer finden.
Ich muss tatsächlich nicht lange suchen, bis ich einige interessante Exemplare gefunden habe und sie zu einem unscheinbaren Ecktisch neben einem kleinen Fenster schleppe. Alle drei Bücher sehen ziemlich alt aus und als ich mich hinsetze und das erste aufschlage, fällt dessen Einband mehr oder weniger fast von alleine ab.
Geschlagene zwei Stunden verbringe ich in der Bibliothek und blättere mich durch vergilbte Seiten. Zu meiner Enttäuschung finde ich trotzdem nichts allzu brauchbares, was mir weiterhelfen könnte.
Natürlich hatte ich nicht erwartet irgendwo einen Absatz über das Gespenst von St. Rednor zu finden, aber nicht einmal über Sophia Cavender selbst gibt es viel herauszufinden.
Dafür umso mehr über St. Rednor, seine Bauzeit und die verschiedenen Stile, die in das Gebäude mit eingearbeitet sind, sowie  sämtliche Daten und Fakten über das Internat bis knapp ins Jahr 1950.
Ich bin jetzt Experte über Umbauten und der Einführung von Strom und Wasserleitungen in St. Rednor, über seine berühmten Schülerinnen und Schulleiterinnen.
Das alles jedoch könnte mich nicht weniger interessieren.
Ähnlich verhält es sich leider auch mit Informationen über Sophias Vater Robert, ich erfahre seinen Geburtstag, sein Sterbedatum, seinen beruflicher Werdegang und seine größten Erfolge, das bringt mich aber alles auch nicht weiter.
Nur hin und wieder mal wird der Name seiner Tochter überhaupt erwähnt und dann auch nur um zu berichten, dass sie von 1823 bis 1826 hier in St. Rednor zur Schule ging.
In meinem letzten Buch allerdings, nachdem ich fast schon aufgeben wollte,  steht dann doch ein Satz, der sich in mein Gedächtnis geschlichen hat.

„Nach dem Tod seiner Tochter Sophia, den er nie richtig verwunden hatte, lebte Robert Cavender nur noch sehr zurückgezogen auf seinem Anwesen Ethington, das er 1804 selbst erbaut hatte."

Sophia Cavender ist also vor ihrem Vater verstorben. Nur wann und wo? Und vor allem wie? Und warum ist sie jetzt als Geist hier auf St. Rednor?
Ich finde auf diese Fragen keine Antwort. Auch der nachfolgende Text in diesem letzten Buch ist wenig aufschlussreich.

„Von dort aus plante er im Laufe der Jahre nur noch zwei weitere Gebäude, eine Fabrik und einen Wohnblock für circa fünfzig Familien. Die Fertigstellung beider Objekte erlebte er jedoch nicht mehr. Robert Cavender starb 1848 vereinsamt in seinem Anwesen Ethington."

Als ich das lese, empfinde ich sogar Mitleid mit Robert Cavender. Seine eigene Tochter zu Grabe tragen zu müssen, ist bestimmt eines der schlimmsten Dinge, was einem Vater passieren kann.
Ob es ihn wohl aufmuntern würde, dass seine Tochter nun augenscheinlich wieder auferstanden ist?
„Hat Mrs. Scott Sie zum Aufarbeiten geschickt oder bilden Sie sich freiwillig?", schreckt mich plötzlich eine hohe Stimme mit nasalem Unterton auf und ich sehe schnell hoch.
Vor mir, mit vier nagelneuen Büchern auf dem Arm, steht eine älter Kollegin und sieht mich von oben herab über den Rand ihrer Nickelbrille an.
„Miss Robinson, wenn ich mich richtig erinnere?", antworte ich freundlich, doch die Lehrerin mit den streng zurückgekämmten grauen Haaren und der altmodischen Bluse sieht mich nur weiterhin mahnend an. Und ich komme mir fast wieder wie eine Schülerin vor.
„Sie erinnern sich ganz richtig. Was man aber nicht im Bezug auf meine vorangegangene Frage behaupten kann", schnappt Miss Robinson und nickt unwirsch zu meinen aufgeschlagenen Büchern hinüber.
Mir passt ihre herablassende Art überhaupt nicht, trotzdem bemühe ich mich weiterhin freundlich zu bleiben.
„Mrs. Scott hat mir überhaupt nichts aufgetragen. Ich lese das hier aus rein privatem Interesse", antworte ich und  beginne die Einbände vorsichtig zu schließen. Ich finde ja doch nichts wichtiges mehr.
„Na dann. Ich wünsche noch einen schönen Tag!"
Und mit diesen schnippischen Worten trippelt meine Kollegin davon und verschwindet wieder zwischen den Regalen.
Augenrollend stehe auch ich auf und räume die Bücher zurück auf ihren Platz, während ich überlege, was das nun wirklich sollte.
Einfach nur um mich zu ärgern?
Ich beschließe, es nicht allzu nah an mich heran zu lassen, nehme meine Tasche und verlasse die Bibliothek.
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Am späten Abend sitze ich in meine Decke eingekuschelt auf dem Sofa und habe meinen Laptop auf dem Schoß.
Ununterbrochen drehen sich meine Gedanken um das vermeintliche Gespenst und ich bekomme sogar ab und an eine Gänsehaut.
Meine Zimmertür habe ich vorsorglich abgesperrt, obwohl ich nicht glaube dass ein Gespenst verschlossene Türen wirklich aufhalten können.
Kurz hatte ich überlegt doch noch zu Olivia hinüber zu gehen, ihr Zimmer liegt immerhin nur ein paar Meter den Flur hinunter, doch ich traue mich nicht wirklich.
Was soll ich ihr auch sagen?
Hey Olivia, halte mich bitte nicht verrückt aber ich glaube ich habe einen Geist gesehen. Was soll ich jetzt tun?
Ich will mir ihr belustigtes Gesicht gar nicht erst vorstellen.
Nein, diese Möglichkeit scheidet erst einmal aus.
Mein Blick fällt zurück auf den Bildschirm meines Laptops und ich fasse mir ein Herz und tippe 'Gespenst' in die Suchmaschine ein.
Die ersten Einträge tragen nicht gerade zu meiner Beruhigung bei.

„Ein Gespenst ist ein gruseliger, umher spukender Geist, der auch in Menschengestalt auftreten kann."

„Manche Gespenster können Wände und Personen durchdringen. Auch verfügen sie über die Fähigkeit zu sprechen."

„Ein Gespenst erscheint dem Menschen, um ihn zu erschrecken und zu ängstigen."

„Ein Gespenst ist oftmals die Wiederkehr von Bösewichten und Selbstmördern und sieht grauenerregend aus."

Nun, zumindest dem letzten Punkt kann ich absolut nicht zustimmen.
Wenn das Mädchen heute auf dem Dachboden und auch gestern Nacht eines nicht war, dann grauenerregend.
Beängstigend, ja. Aber ansonsten? Nett? Höflich? Hübsch?
Eigentlich hat sie nichts getan, was dich ängstigen müsste, bis auf diesen gruseligen Händetrick, denke ich und wickle meine Decke noch fester um meine Schultern.
Und trotzdem habe ich Angst.
Trotzdem zucke ich bei jedem noch so kleinen Geräusch zusammen und trotzdem dauert es an diesem Abend eine halbe Ewigkeit, bis ich schließlich in einen unruhigen Schlaf falle.
Und selbst dann schrecke ich alle paar Minuten auf und lausche ängstlich in die Dunkelheit hinein.
Doch wieder Erwartens bleibt alles ruhig und friedlich...

1826Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt