Stille Gotteshäuser

883 88 8
                                    

Meine Schritte tragen mich leichtfüßig über den grünen Rasen hinunter zu der im Schatten des Waldes liegenden Kappelle. Das schmiedeeiserne Kreuz auf ihrem Dach bewegt sich leicht im lauen Abendwind und drei schwarze Vögel sitzen auf der Brüstung des kleinen Glockenturms.
Das Gatter des Friedhofs steht halb offen und quietscht leise bei jedem Windstoß, der auch mir sanft das Haar zerzaust.
Ein glückliches Lächeln legt sich auf mein Gesicht, als mir wieder einmal bewusst wird, wie verwunschen und mystisch St. Rednor doch eigentlich ist. Und wie sehr ich dieses Internat bereits in mein Herz geschlossen habe.
Die schweren Holztüren knarzen widerwillig, als ich sie öffne um ins Dunkle der Kapelle hineinzuschlüpfen. Hier drin ist es mucksmäuschenstill. Nicht einmal der Wind ist noch zu hören.
Meine Schritte hallen dumpf auf den Steinfliesen, als ich bedächtig den breiten Mittelgang bis zum dunklen Altar entlang schreite. An der vordersten Kirchenbank angekommen, bleibe ich stehen und senke leicht den Kopf. Auch wenn es mein Glaube nicht von mir verlangt, so nötigt mir doch der Respekt diese Art von Ehrerbietung ab.
„Mary."
Sophias warme Stimme erklingt nur wenige Meter neben mir und als ich den Kopf nach links drehe, sehe ich sie nicht unweit von mir auf einer der Bänke sitzen. Einer Bank, die bei meinem Eintreten ganz sicher noch leer war.
„Sophia", erwidere ich und schreite langsam zu ihr hinüber, „ich hoffe, ich habe dich nicht zu lange warten lassen."
„Absolut nicht", erwidert die hübsche junge Frau leise und als ich mich neben sie setze, bildet sich ein kleines Lächeln auf ihren roten Lippen.
„Wie haben die Mädchen auf deine Rückkehr reagiert?"
Ich lache bei der Erinnerung an das vorangegangene Abendessen kurz auf und das Geräusch hallt einen Moment in der Stille nach.
„Sie haben sich alle sehr gefreut."
„Und Olivia?"
„Sie wusste ja schon, dass ich wieder zurückkomme, aber sie hat mich fest in den Arm genommen", antworte ich mit einem warmen Lächeln und sehe Sophia tief in ihre unergründlichen, grünen Augen.
„Es ist ein schönes Gefühl, sich wieder so gemocht und geschätzt zu wissen", setze ich dann noch hinterher und meine Stimme zittert ein wenig dabei. Das entgeht auch Sophia nicht.
„War es in Ashford denn anders?", hakt sie behutsam nach und ich nicke schnell.
„Dort war ich nur eine von vielen. Und mir hat das Unterrichten absolut keinen Spaß gemacht. Jetzt wieder hier auf St. Rednor zu sein, verdeutlicht mir das noch mehr."
Eine Weile sagt keiner von uns darauf etwas. Dann rutscht Sophia leise ein Stück näher zu mir heran und nimmt meine Hände in ihre. Ihre Haut fühlt sich so weich und warm an wie immer. Und doch scheint sie diesmal kleine Funkenstöße auf mich zu übertragen, die einen warmen Schauer über meinen Körper laufen lassen. Ich blicke auf.
„Versprichst du mir etwas, Mary?", fragt Sophia, ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern und in ihren grünen Augen liegt ein dringlicher Ausdruck.
„Was soll ich dir denn versprechen?", flüstere ich zurück.
„Versprichst du mir auf St. Rednor zu bleiben, wenn ich...wenn ich das mit uns wirklich versuche? Weil wenn nicht-...du weißt, dass ich dir nicht folgen kann."
Ihre Stimme wird rau, als Sophia die letzten Worte sagt und in ihre Augen blicken mich beinahe flehentlich an. Mir aber wird ganz warm ums Herz.
„Würdest du es denn wirklich probieren wollen?", erwidere ich mit bewegter Stimme und streiche mit dem Daumen über Sophias Handrücken.
Die junge Frau nickt ernst.
„Ich habe Gefühle für dich Mary. Und ich möchte gerne sehen, wie weit sie mich zu dir führen können."
Ein paar Augenblicke ist es still zwischen uns, in denen wir uns einfach nur tief in die Augen blicken. Und ich begreife, dass dieses Versprechen mich nicht an St. Rednor binden wird. Denn das hat Sophia schon längst getan.
„Ich verspreche es dir", wispere ich in die Stille hinein. Auf Sophias Gesicht breitet sich ein erleichterter Ausdruck aus und ihre vollen Lippen bilden ein glückliches Lächeln.
„Danke. Du weißt gar nicht wie viel mir das bedeutet", sagt die junge Frau vor mir und senkt für einen Moment den Blick.
Ich aber lege eine Hand unter ihr Kinn und bringe sie so sanft wieder dazu mich anzusehen. In der Dunkelheit der kleinen Kirche leuchtet das Grün ihrer Augen wie der helle Schein einer Kerze.
„Selbst ohne Versprechen, könnte ich dich und St. Rednor nicht noch einmal verlassen. Ich habe ein Zuhause hier gefunden", flüstere ich liebevoll und das bringt Sophia zum Lächeln. Ein Lächeln, das ich nie wieder missen möchte.
Wieder schweigen wir einen Moment. Aber es ist kein unangenehmes Schweigen. Es fühlt sich gut und vertraut an. Und vielleicht finde ich deswegen den Mut für meine nächsten Worte.
„Ich muss dir etwas sagen."
Ich weiß nicht warum es mir plötzlich so ein Bedürfnis ist Sophia von der Zeit in Ashford zu berichten, aber ich möchte ehrlich zu ihr sein. Von Anfang an. Und dazu gehört leider auch die Situation mit Henry.
„Du kannst mir alles sagen", erwidert Sophia leise und sieht mich aufmerksam an. Ich atme noch einmal tief durch und lege mir meine Worte zurecht. Warum fühle ich mich plötzlich so schuldig Sophia von diesem Kuss zu erzählen? Immerhin war er zu diesem Zeitpunkt vollkommen in Ordnung.
„Während der Zeit in Ashford...gab es einen Kollegen der mich trotz allem sehr gerne mochte", beginne ich stockend zu erzählen. Sophia aber hört mir mit entspanntem Gesichtsausdruck ruhig zu.
„Irgendwann bin ich mit ihm ausgegangen und es kam zu einem Kuss. Er hat mir nichts bedeutet, aber ich wollte, dass du davon weißt."
Als ich geendet habe beobachte ich mit klopfendem Herzen Sophias Reaktion. Die junge Frau sieht mich erst nachdenklich an, dann antwortet sie bedacht.
„Wenn dir der Kuss etwas bedeutet hätte, wärst du in Ashford geblieben. Aber du sitzt gerade hier in dieser Kapelle auf St. Rednor. Bei mir...Es sollte so sein", ist alles was die junge Frau dazu sagt und ein Schmunzeln umspielt ihre Lippen.
„Wie hieß er denn?"
„Henry", sage ich, erleichtert, dass Sophia kein bisschen böse oder verletzt zu sein scheint.
„Solange Henry für dich den Aufenthalt auf Ashford angenehmer gestaltet hat, war es gut so", fährt sie fort und nun ist es an mir nachdenklich drein zu blicken.
„Geringfügig vielleicht. Aber am Ende des Tages konnte auch er mich nicht aufheitern. Ich habe mich auf Ashford gewissermaßen selbst verloren. Ich konnte mich einfach nicht in die gegebene Situation einfügen und ich war gereizt und gestresst. Zum Schluss war ich nicht einmal mehr die Person, die ich eigentlich bin. Nicht die Lehrerin, die Spaß an ihrem Beruf hat. Nicht die Kollegin, die stets ein offenes Ohr für die Probleme anderer hat. Und da wusste ich, dass es die falsche Entscheidung gewesen war St. Rednor zu verlassen."
Sophia nickt nur nachdenklich. Ihre Finger spielen vorsichtig mit meinen.
„Als du weg warst...war ich sehr ruhelos", sagt sie schließlich langsam und ihre Augenbrauen ziehen sich kaum merklich zusammen, während sich ihre sonst so glatte Stirn in Falten legt.
„Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Und ich hatte das Gefühl, ich hätte dir nicht raten sollen zu gehen. Auch wenn ich tief in mir ganz genau wusste, dass es die richtige Entscheidung war. Ganz zu schweigen davon, dass ich dich Tag und Nacht vermisst habe", fügt sie noch sanft an und wirft mir einen nachdenklichen Blick zu, „aber was ich wusste war, dass ich mein persönliches Glück nie über deines stellen würde. Und darum konnte ich deine Abwesenheit irgendwie ertragen, auch wenn es mir außerordentlich schwer fiel."
Sophia seufzt tief, dann schüttelt sie den Kopf und ein leises Lachen entkommt ihrer Kehle.
„Es ist schon eine Ironie des Schicksals."
„Wie meinst du das?", frage ich behutsam nach und rutsche meinerseits noch näher an die junge Frau mit den unendlich tiefgrünen Augen heran.
„Ich musste erst sterben, als Geist wiedergeboren werden und danach beinahe zwei Jahrhunderte geduldig warten, um dich kennenzulernen."
Wir sehen uns lange in die Augen. Keiner sagt ein Wort. Es ist so leicht sich in Sophias sanftem Blick zu verlieren...
„Ist es das Warten denn wert gewesen?", durchbreche ich die Stille schließlich mit rauer Stimme.
Ein warmes Lächeln erscheint auf Sophias roten Lippen.
„Jede Sekunde davon."
Und dann legt sie ihre Fingerspitzen an meine Wange und küsst mich. So sanft, so zärtlich, so...gefühlvoll.
Mein Herz in meiner Brust hüpft aufgeregt auf und ab und ich bin kaum in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen.
Sophias weiche Lippen auf meinen, lösen in mir ein ganz neues Gefühl aus. Ein aufregendes, ein warmes und ein wunderschönes. Und ich kann nicht genug davon bekommen.
Behutsam drehe ich leicht den Kopf und gebe unserem Kuss so eine kleine Spur mehr Intensität. Aber anstatt sich von mir zurückzuziehen, geht Sophia auf meine Initiative ein und wir lösen uns erst wieder voneinander, als ich dringend mehr Luft benötige.
„Für deine Freundschaft, Mary, würde ich auch noch einmal hundert Jahre warten. Das zwischen uns...es fühlt sich so besonders an", flüstert Sophia und ihre warmen Fingerspitzen hinterlassen brennende Spuren auf meiner Haut.
Ich nicke nur stumm und lehne mich dann wieder nach vorne, um mir einen weiteren Kuss von der jungen Frau zu stehlen. Und Sophia lässt es zu.
Doch dann zieht sie sich abrupt zurück und ein Schatten legt sich über ihr hübsches Gesicht.
„Was ist los? Habe ich etwas falsch gemacht?", wispere ich erschrocken, doch Sophia schüttelt nur schnell den Kopf und springt von der Kirchenbank auf.
„Jemand kommt", kann sie mich gerade noch warnen, da höre ich auch schon das Quietschen der großen Eingangstüren und fahre herum.
Niemand anders als Tessa betritt die kleine Kapelle und lächelt mich freudestrahlend an.
„Hier sind Sie also, Miss Davis. Ich hab Sie schon überall gesucht", sagt sie glücklich und kommt den langen Mittelgang auf mich zu geschlendert.
Ich versuche mir meinen Ärger über Tessas plötzliches Auftauchen nicht anmerken zu lassen, zumal sie mich nicht zufällig gefunden sondern garantiert verfolgt hat. Sie hatte mich ja schon beim Abendessen nicht für einen Moment aus den Augen gelassen.
Und dann muss Sophia auch noch wegen ihr verschwinden!
„Ist das so?", frage ich mit trockener Stimme und verdrehe innerlich die Augen als sich die ältere Schülerin wie selbstverständlich neben mich auf die Bank fallen lässt.
„Ja...was machen Sie hier? Sind Sie gläubig oder so?", fragt Tessa neugierig und lässt ihren Blick schnell durch den dunklen Raum schweifen.
Mir aber ist meine jetzige Situation höchst unangenehm. Dazu kommt mein noch immer viel zu schnell pochendes Herz von meinem Kuss mit Sophia...
„Nein. Ich brauche nur ein bisschen Ruhe nach dem erneuten Umzug", sage ich bemüht ruhig und hoffe, dass Tessa die Betonung auf das Wort Ruhe begriffen hat. Aber sie macht keinerlei Anstalten mich alleine zu lassen.
„Oh ja, kann ich verstehen. Ich bin übrigens super froh, dass Sie wieder hier sind. Ich hab Sie nämlich schon vermisst. Und auch jeden Tag an Sie gedacht", grinst das schlanke Mädchen mit den knalligen Tshirts und rutscht unauffällig ein Stück näher zu mir heran.
In mir schrillen nun alle Alarmglocken.
„Tessa...", sage ich mahnend und meine damit sowohl ihre Worte als auch ihren vorsichtigen Annäherungsversuch.
„Was denn?", fragt Tessa unschuldig und sieht mich treuherzig an.
Ich aber seufze nur tief und erhebe mich dann von meinem Platz.
„Ich freue mich ja, dass ihr mich alle wieder so herzlich aufnehmt, aber es gibt gewisse Grenzen, die man dabei nicht überschreiten sollte. Gute Nacht, Tessa", sage ich freundlich aber bestimmt und trete hinaus auf den Mittelgang.
Tessa aber sieht mir überrascht und auch etwas sprachlos hinterher, als ich zwischen den leeren Bänken entlang schreite und dann stillschweigend hinaus in die Nacht verschwinde.
Der inzwischen kühle Abendwind empfängt mich und ich wickle meine dünne Jacke fester um meine Schultern, während ich über den dämmrigen Rasen zurück zum Internat laufe.
Nur aus den Augenwinkeln nehme ich einen Schatten an meiner Seite wahr und als ich aufblicke, schenkt Sophia mir ein warmes Lächeln.
„Tessa könnte wirklich noch zu einem Problem für uns werden", sagt die junge Frau nachdenklich und passt mühelos ihre Schritte an meine an.
„Oh ja! Und wir sollten besser früher als später eine Lösung dafür finden", pflichte ich Sophia bei und sie nickt stumm.
„Ich werde darüber nachdenken", verspricht sie mir ehrlich und wir lächeln uns vertrauensvoll an.
St. Rednor ist jetzt nur noch wenige Meter entfernt und die meisten Zimmer sind mittlerweile hell erleuchtet. Sie werfen gelbe Flecke auf das schattige Gras und machen es Sophia und mir so unmöglich Körperkontakt zueinander zu suchen. Zu groß ist die Gefahr, uns könnte jemand beobachten.
„Sobald wir im Internat sind, werde ich dich alleine lassen. Es sind noch zu viele Mädchen unterwegs", sagt Sophia leise und hält mir die Tür auf, während sie sich aufmerksam umsieht. Ich nicke, auch wenn es mir lieber wäre, sie würde bei mir bleiben.
„Dann wünsche ich dir jetzt schon mal eine gute Nacht?", frage ich ebenso leise und ziehe die Tür hinter mir zu.
„Für heute, ja. Du bist sicherlich in der Tat müde von der langen Reise und möchtest dich ausruhen. Ich verspreche dir aber, dass wir uns morgen wiedersehen werden", erwidert Sophia sanft und sieht sich noch einmal prüfend um, ganz als wolle sie noch etwas wichtiges sagen. Oder tun...
Dann jedoch tritt sie schnell einen Schritt zurück, ein entschuldigender Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht. Schon höre ich das munter Geplapper und den dumpfen Klang von näher kommenden Schritten und es bleibt mir gerade genug Zeit um einen letzten Blick auf Sophia zu werfen, bevor diese sich in Luft auflöst.

1826Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt