Eine Offenbarung

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„Mädels, ich weiß, dass bald große Ferien sind, aber wir werden diese eine Woche jetzt auch noch ordentlich über die Bühne kriegen! Also bitte, reißt euch ein bisschen zusammen", ermahne ich meine munter plappernden Schülerinnen und ein leises Raunen geht durch die Reihen der Mädchen.
Alle haben keine Lust mehr auf Unterricht. Auch ich nicht, wenn ich ehrlich bin. Aber Lehrplan ist nun mal Lehrplan und ich habe fest vor, den Mädchen alles notwendige beizubringen, was sie für die nächste Klassenstufe wissen müssen.
Und das möglichst noch vor den Sommerferien!
„Miss Davis? Eine Frage bitte", meldet sich Clarissa plötzlich und ich nicke ihr aufmunternd zu.
„Ja?"
„Können wir in den nächsten Stunden mal raus gehen und dort unterrichten? Es ist so schön sonnig draußen."
Ich überlege einen Moment aber auch mich ziehen die Wärme und die Sonnenstrahlen zunehmend aus den dunklen Klassenräumen hinaus in den wunderschön blühenden Garten von St. Rednor. Und darum ist meine Antwort ganz einfach.
„Ich werde zusehen, dass wir das in Zukunft machen. Danke für den Vorschlag, Clarissa."
Das Mädchen nickt sichtlich zufrieden und auch ich wende mich wieder der Tafel zu, um eine Übung anzuschreiben.
„Den Rest der Stunde bearbeitet ihr bitte auf Seite 298 den zweiten Text. Ich denke, wenn ihr euch beeilt, müsst ihr ihn nicht einmal als Hausaufgabe zuende machen."
Ein widerwilliges Stöhnen geht durch die Klasse, doch ich schmunzle nur und setze mich auf den Stuhl hinter meinem Pult, während sich die Mädchen nach und nach an die Arbeit machen.
Die Mittagssonne scheint warm zu den großen Fenstern herein und malt helle, runde Tupfen auf den alten Dielenfußboden.
Eine Weile sehe ich dabei zu, wie sich der Staub an diesen lichtbeschienen Flecken wie ein kleiner Wirbelsturm im Kreis dreht und denke an das Gespräch mit Sophia in der Kapelle zurück.
Ich kann es kaum erwarten St. Rednor den ganzen Sommer für uns alleine zu haben. Zumindest fast.
Die Mädchen werden nicht mehr hier sein und der ein oder anderen Kollegin gehe ich einfach aus dem Weg. Und ich hoffe, dass Sophia sich dann auch am Tage wesentlich öfter sichtbar in den Gängen und vielleicht sogar beim Essen zeigen wird.
Könnte ich nicht einfach behaupten sie wäre eine Freundin von mir, sollte mich jemand fragen? Weiblicher Besuch ist doch nicht verboten...
Meine Gedanken schweifen immer weiter in Richtung Sommerferien ab, bis die laute Klingel mich schließlich doch aus meinen sorgfältig geschmiedeten Plänen reißt.
Kaum ist die letzte Schülerin meiner 10. Klasse aber zur Tür hinaus, öffnet sich diese erneut und niemand anderes als Tessa betritt das Klassenzimmer. Als ich sie sehe, rolle ich innerlich mit den Augen und straffe automatisch meinen Rücken.
„Hallo Miss Davis. Haben Sie kurz Zeit für mich?", fragt Tessa sichtlich aufgeregt und ich seufze leise.
„Natürlich Tessa, was gibt es denn?", erwidere ich so freundlich wie möglich und setze mich rücklings auf mein Pult. Die Arme demonstrativ vor der Brust verschränkt.
„Also, Sie wissen ja, dass ich meinen Abschluss inzwischen geschafft habe...", beginnt meine ehemalige Nachhilfeschülerin vorsichtig und bleibt nur wenige Meter vor mir stehen.
„Ja, das weiß ich. Herzlichen Glückwunsch nochmal", antworte ich aufmerksam. Ich weiß natürlich, dass die 13. Klasse vor kurzem ihre Abschlussprüfung geschrieben hat, aber mir ist schleierhaft, was Tessa mir diesbezüglich sagen möchte.
Die ältere Schülerin nimmt meine Beglückwünschung vorerst mit einem leichten Kopfnicken zur Kenntnis.
„Danke, aber...naja, ich bin ja dann nicht mehr da und-", fährt sie fort und beißt sich nervös auf die Unterlippe, „-ich...ich weiß nicht, wie ich es sagen soll..."
Nun ist es an mir verwundert eine Augenbraue nach oben zu ziehen. Es ist das erste Mal, dass ich die sonst so selbstbewusste Schülerin um Worte ringen sehe. Dennoch unterbreche ich Tessa nicht und warte geduldig darauf, dass sie weitersprechen wird.
„Sehen Sie...ich-", beginnt Tessa erneut und ihre dunklen Augen bohren sich tief in meine. Gleichzeitig macht sie ein paar unsichere Schritte auf mich zu.
„Ich mag Sie wirklich sehr und-...scheiße, ist das schwer!"
Ich runzle verwirrt die Stirn. Was soll das denn werden? Wird sie mich gleich ernsthaft nach einem Date fragen?!
„Das ist mir durchaus bewusst, Tessa. Also spuck es einfach aus, ich werde dir schon nicht den Kopf abreißen", sage ich darum bemüht ruhig und falte abwartend die Hände vor meinem Körper.
„Da wäre ich mir nicht so sicher", höre ich meine ehemalige Schülerin noch murmeln, dann überbrückt Tessa mit zwei schnellen Schritten den Abstand zwischen uns und mir bleibt gerade noch Zeit ruckartig den Kopf wegzudrehen, da küsst mich Tessa auch schon stürmisch auf die Wange.
Ein Kuss der eigentlich meine Lippen hätte treffen sollen.
„TESSA!"
Erschrocken stoße ich das Mädchen von mir und springe vom Pult auf. Tessa aber sieht mich nur verlegen an und wippt unentschlossen auf ihren Zehnspitzen vor und zurück.
„Was zur Hölle ist nur-"
Gerade will ich zu einer wahren Schimpftirade ansetzen, da höre ich plötzlich eine leise aber dafür umso zornigere Stimme an meinem rechten Ohr.
„Bitte tu gleich so, als würdest du mich weder sehen noch hören können."
Und bevor ich überhaupt recht begreife, was hier gerade vor sich geht, erscheint Sophia auch schon zwischen mir und Tessa. Sichtbar!!
Mit vor der Brust verschränkten Armen funkelt sie das Mädchen wütend an. Tessa aber reißt erschrocken die Augen auf und stolpert ein paar Schritte zurück, während ich versuche mir absolut nichts anmerken zu lassen.
„Wa-", stottert Tessa ängstlich und umklammert die nächstbeste Stuhllehne, in ihren dunklen Augen steht nun eindeutig Furcht.
„Weißt du, wer ich bin?", fragt Sophia das Mädchen mit schneidender Stimme und ich muss mich zusammenreißen, um ihr nicht beruhigend eine Hand auf die Schulter zu legen.
„J-ja. Ja, tu ich. Du bist das...Gespenst!", erwidert Tessa nur eingeschüchtert und starrt abwechselnd zu mir und dann wieder zu Sophia zurück, die sie noch immer mit ihren grünen Augen durchbohrt.
„Was redest du da, Tessa?", frage ich nun gespielt verwundert dazwischen, um die Fassade aufrecht zu halten, ich würde Sophia nicht sehen können.
Daraufhin werden Tessas Augen nur noch größer.
„Was?! Sie sehen sie nicht?!"
„Wen soll ich sehen?", frage ich verärgert, doch da übernimmt auch schon wieder Sophia das Gespräch.
„Miss Davis kann mich weder sehen noch hören, Tessa. Dafür hörst du mir nun umso besser zu", sagt Sophia bestimmt und macht einen Schritt auf Tessa zu, die vollkommen verängstigt zurückweicht und kaum merklich nickt.
„Was du da gerade getan hast, oder versucht hast zu tun, war absolut inakzeptabel! Einen Menschen küssen zu wollen, von dem man genau weiß, dass er die eigenen Gefühle nicht erwidert, ist nicht nur im höchsten Maße unhöflich, es ist außerdem respektlos und aufdringlich! Ich erwarte, dass du dich auf der Stelle entschuldigst!"
„Entschuldigung! Es tut mir leid", kommt Tessa Sophias Aufforderung mit zitternder Stimme nach und sieht mich hilfesuchend an.
Ich aber kann nur eine Augenbraue nach oben ziehen und weiter so tun als würde ich Sophia überhaupt nicht wahrnehmen.
„Entschuldigung angenommen", sage ich langsam und damit ich meine Rolle auch wirklich glaubhaft spiele, schiebe ich schnell noch einen Satz nach, „was ist denn plötzlich los mit dir? Mit wem redest du?"
Tessa jedoch deutet nur mit ausgestrecktem Arm zitternd auf Sophia und schiebt sich unauffällig immer weiter Richtung Tür.
„Da! Das Gespenst von St. Rednor! Sophia! Sie müssen es doch sehen!!"
Betont langsam lasse ich meine Augen durch das ganze Klassenzimmer wandern und sehe dabei bewusst durch Sophia hindurch. Dann wende ich mich wieder Tessa zu. Sophia schweigt währenddessen.
„Also ich entdecke hier nur dich und mich, Tessa. Ist wirklich alles in Ordnung mit dir, oder musst du zum Arzt?"
Doch wieder beginnt Sophia zu sprechen. Diesmal deutlich ruhiger.
„Es ist besser, wenn du jetzt gehst, Tessa. Aber davor versprichst du mir, dass so etwas nie wieder vorkommen wird!"
Mittlerweile ist die verängstigte Tessa an der Klassenzimmertür angekommen und reißt sie hektisch auf.
„Ich verspreche es! Bitte tu mir nichts!", ist alles was ich von dem zitternden Mädchen noch höre, dann dreht sich Tessa auch schon auf dem Absatz um und rennt so schnell sie kann davon.
Die alte Tür fällt mit einem dumpfen Schlag hinter ihr ins Schloss.
Nun bin ich mit Sophia alleine.
„Geht es dir gut?", erkundigt sich die junge Frau sofort bei mir, kaum dass Tessa den Raum verlassen hat und dreht sich besorgt zu mir um.
„Ja. Etwas überrumpelt aber ansonsten gut", antworte ich beruhigend, widerspreche aber auch nicht, als Sophia zu mir herüber kommt und sanft meine Hände in ihre nimmt.
„Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht so erschrecken aber ich konnte nicht zulassen, dass sie dir nochmal zu nahe kommt", sagt Sophia schnell und sieht mich aus grünen Augen tief an. In meinem Bauch fliegen die Schmetterlinge.
„Ich bin sehr dankbar für die schnelle Rettung, aber macht es dir nichts aus, dass Tessa dich jetzt mitten am Tag gesehen hat? Wird sie es nicht im ganzen Internat herumerzählen?", frage ich besorgt. Denn ich will mir gar nicht ausmalen, was passieren würde, wenn alle Mädchen plötzlich Jagd auf Sophia machen.
Ganz zu schweigen von Mrs. Scott, sollte sie von diesem Zwischenfall erfahren!!
„Darum habe ich dir gesagt, du sollst so tun als würdest du mich nicht wahrnehmen. Außerdem denke ich, dass Tessa diese ganze Geschichte so peinlich ist, dass sie sie nicht vielen Personen erzählen wird", erwidert die junge Frau mit den grünen Augen achselzuckend, „und wenn Mrs. Scott doch auf dich zukommen sollte, sagen wir ihr eben die Wahrheit."
Ich nicke nur nachdenklich. Einen Moment der Stille breitet sich zwischen uns aus.
„Mary?", fragt Sophia nach einer Weile und ich blicke auf.
„Ja?"
„Darf ich dich heute Nacht zu einem Ausflug auf die Dachterasse einladen? Wir könnten uns den Sternenhimmel und die Sternschnuppen ansehen und ich werde dafür sorgen, dass dir nicht kalt ist", schlägt mir Sophia vor und ein glückliches Lächeln stiehlt sich auf ihre roten Lippen, als ich sofort zu nicken beginne.
„Ich bin dabei! Sag mir wann und wo?", erwidere ich erfreut und schlinge meine Arme um Sophias Taille.
Die junge Frau schmunzelt nur und antwortet dann mit sanfter, warmer Stimme.
„Ich hole dich gegen 21 Uhr ab. Denk daran, dir eine Jacke mitzunehmen. Auf dem Dach ist es auch im Sommer kühl."
„Ich werde dran denken", versichere ich Sophia und dann schließe ich meine Augen und gebe ihr einen langen, erwartungsvollen Kuss, der mein Herz schneller klopfen lässt.
„Bis heute Abend, schöne Frau", wispert mir Sophia noch ins Ohr, bevor sie sich sanft aus meiner Umarmung befreit, „ich freue mich jetzt schon auf dich."
Und bevor ich noch etwas erwidern kann, löst sich Sophia vor meinen Augen in Luft auf.

Frohe Weihnachten zusammen 🎄🎁🎅🏻!
Ich hoffe ihr hattet gestern alle ein schönes Fest mit euren Lieben und seht dieses Kapitel als kleines, nachträgliches Weihnachtsgeschenk. :)
LG

1826Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt