Elterlicher Beistand

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„Meine Güte, ist das Gebäude riesig", staunt meine Mutter nicht schlecht, als ich zusammen mit ihr und meinem Vater die großzügige Eingangshalle von St. Rednor betrete, „und ganz altmodisch eingerichtet!"
Meine Eltern sind spontan zu Besuch gekommen. Eine ganze Woche früher als erwartet. Aber ich freue mich natürlich trotzdem sehr die beiden zu sehen! Und ihnen mein neues Zuhause zu zeigen.
„St. Rednor wurde 1823 von Robert Cavender erbaut. Seit dieser Zeit hat es sich natürlich stets weiter entwickelt, aber man kann trotzdem durchaus sagen, dass es seinen traditionellen Charme behalten hat", erwidere ich lächelnd und führe meine Eltern langsam durch das verlassene Internat, während die mit großen Augen alles genauestens mustern.
„Und du fühlst dich hier wirklich wohl, mein Schatz?", fragt mein Vater skeptisch und wirft mir über den Rand seiner runden Brille einen langen Blick zu. Ich weiß, dass er nur mein Bestes im Sinn hat und dass diese Vorstellung nicht unbedingt mit einem Mädcheninternat übereinstimmt. Andererseits...weiß er noch nichts von Sophia und mir.
Und darum nicke ich nur schnell.
„Ja, total. Ich finde St. Rednor sehr, sehr schön. Und die unberührte Natur beruhigt mich ungemein."
Das leise Schmunzeln meiner Mutter entgeht mir dabei nicht, aber ich beschließe es erst einmal zu ignorieren. Meine Eltern werden noch früh genug von Sophia erfahren. Genauer gesagt in ein paar Minuten...
Davor aber zeige ich ihnen noch die Bibliothek mit den vielen historischen Büchern, mein stilles Klassenzimmer, sowie den Speisesaal, in dem sich um die Mittagszeit zum Glück weder Miss Andrew noch Miss Robinson befinden und zu guter letzt, mein eigenes, gemütliches Zimmer.
Meine Eltern sehen sich alles interessiert an und fragen mich ab und zu etwas über die Geschichte der einzelnen Räume. Und ich beantworte ihnen alles so gut ich es weiß.
Dann jedoch wird es Zeit meiner Mutter und meinem Vater den weiten Garten rund um St. Rednor zu zeigen. Und langsam aber sicher steigt auch meine Aufregung.
Denn in der kleinen Kapelle neben dem Friedhof wird Sophia auf uns warten. Und ich werde sie meinen Eltern als meine Freundin vorstellen. Jedenfalls so weit das möglich ist, ohne Sophias größtes Geheimnis zu verraten. Denn ich befürchte, dass meine Mutter und mein Vater sonst einen Herzinfarkt bekommen könnten...
Ehrlich gesagt, habe ich so schon ein wenig Angst vor ihrer Reaktion. Nicht weil, sie sich jemals gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen ausgesprochen hätten, aber bei der eigenen Tochter ist es dann ja meistens doch etwas anders. Aber sei es wie es sei. Die zwei haben die Wahrheit verdient. Und ich bin auch ein kleines bisschen stolz auf Sophia. Ein bisschen sehr, um genau zu sein...
„Langsam verstehe ich immer besser, warum es dir hier so gut gefällt, Mary", sagt meine Mutter lächelnd und hält verträumt ihr Gesicht in die warme Mittagssonne. Gerade kommen wir von den schon bald erntereifen Gemüsebeeten und steuern zu dritt auf den im Schatten liegenden Friedhof und die kleine daneben Kapelle zu.
Mein Herz klopft immer schneller. Und die Aufregung steigt stetig. Trotzdem versuche ich mir nichts anmerken zu lassen.
„Weißt du wer auf diesem Friedhof alles begraben liegt?", fragt mein Vater neugierig und mustert interessiert die schiefen Kreuze und bemoosten Grabsteine, die bereits jetzt am Nachmittag lange Schatten werfen.
Ich schlucke einmal schwer.
„Einige Nonnen aus St. Rednors Vergangenheit, glaube ich", antworte ich so ruhig wie möglich und halte dann kurz inne, bevor ich mich entschließe noch einen weiteren Satz hinzuzufügen, „und...die Tochter von Robert Cavender."
„Oh", mein Vater zieht mitleidig die Augenbrauen zusammen. Aber er fragt zum Glück nicht weiter nach. Und das ist vielleicht auch besser so. Sonst würde er am Ende eventuell noch Verdacht schöpfen. Und ich bin sowieso schon aufgeregt genug!
Und dann ist es soweit.
„So, zum Schluss zeige ich euch noch die Kapelle. Sie ist einer meiner Lieblingsorte im Internat", sage ich leicht nervös und öffne mit zitternden Händen die große, hölzerne Tür der Kapelle.
Als ich den hellen Raum betrete, sehe ich Sophia bereits entspannt auf einer der vorderen Kirchenbänken sitzen. Als sie die Tür hört, dreht sie sich erwartungsvoll zu uns um und lächelt mir warm zu.
Sofort beruhigt sich mein rasendes Herz ein wenig und ich atme tief durch, bevor ich auch meinen ahnungslosen Eltern endlich Zutritt gewähre.
„Mama, Papa? Das ist Sophia", stelle ich meine Freundin den beiden vor und hoffe inständig, dass meine Stimme nicht allzu sehr zittert. Mit angehaltenem Atem beobachte ich genau, wie sowohl meine Mutter als auch mein Vater die junge Frau vor ihnen freundlich begutachten.
Und trotz meiner Nervosität bin ich auch ein wenig stolz darauf, Sophia gleich vor meinen Eltern als meine Freundin bezeichnen zu dürfen.
Immerhin ist sie wahnsinnig hübsch. Und intelligent. Und...einfach der Wahnsinn!
„Hallo, schön Sie beide kennenzulernen", lächelt Sophia und geht mit langsamen und andächtigen Schritten auf beide zu. Dann reicht sie sowohl meiner Mutter als auch meinem Vater bereitwillig die Hand.
Ich bin fast ein wenig erleichtert, dass sie nicht durch die junge Frau hindurch fassen. Nicht, dass das schon einmal passiert wäre...
„Ebenso. Bist du hier Schülerin auf St. Rednor?", will meine Mutter gleich wissen und ich kann mir ein leises Schmunzeln nicht verkneifen. Wenn sie nur wüsste...
Sophia aber bleibt entspannt und schüttelt nur freundlich den Kopf.
„Nein, ich bin die Tochter von Mrs. Scott, der Schulleiterin", sagt sie und wirft mir fast im selben Moment ein verschmitztes Blinzeln zu.
Sophia und ich haben uns auf diese kleine Notlüge geeinigt. Wie sonst hätten wir Sophias Anwesenheit auf St. Rednor logisch erklären sollen? Und meine Beziehung zu ihr?
„Soso. Du wirkst noch recht jung...", wirft mein Vater daraufhin ein und verschränkt die Arme vor der Brust, „und woher kennt ihr beide euch dann, wenn du nicht hier zur Schule gegangen bist?"
Nun ist es also so weit.
Und wie aufs Stichwort beginnt mein Herz erneut zu rasen. Unruhig verlagere ich mein Gewicht von einem Bein aufs andere und beiße mir nervös auf die Unterlippe. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr. Und ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass meine Eltern zwar überrascht aber nicht negativ reagieren werden. Ein gewisser Rest Angst bleibt aber trotzdem...
Also sehe ich schnell zu Sophia hinüber und hole dann tief Luft. Meine junge Freundin lächelt mir aufmunternd zu. Ihre grünen Augen funkeln.
„Mama, Papa... Sophia ist auch ein Grund, weswegen ich hier auf St. Rednor bleiben wollte. Da ihre Mutter die Direktorin ist, haben wir uns oft nach dem Unterricht und anschließend am Abend oder nach dem Abendessen gesehen und viel geredet. Wir haben uns trotz des Altersunterschieds vin Anfang an gut verstanden und dieselben Interessen geteilt. Und dann...ist es irgendwann einfach passiert", meine Stimme stockt für einen Moment, doch ich reiße mich zusammen und rede tapfer weiter. Es muss einfach raus, „Sophia ist... ich meine, wir sind...ich- ich habe mich in sie verliebt..."
Daraufhin ist es erst einmal still in der kleinen Kapelle. Meine Eltern starren ungläubig von mir zu Sophia und wieder zurück. Und zwar solange, bis diese entschlossen die entstandene Stille durchbricht. Mit ernstem Gesicht und bedächtigen Schritten kommt meine Freundin zu mir hinüber. Die Sohlen ihrer ledernen Schuhe klingen dumpf in der Stille nach.
Zärtlich schiebt Sophia ihre Hand in meine und ich verschränke bereitwillig meine Finger mit ihren. Wir lächeln uns liebevoll an.
„Ich hoffe wirklich inständig, dass unsere Beziehung für Sie in Ordnung ist. Denn Mary ist die wunderbarste Frau, die mir seit langem begegnet ist", sagt meine Freundin ehrlich und mir schießt die Röte augenblicklich in die Wangen. Es ist meinem Leben bis jetzt noch nicht oft vorgekommen, dass mich jemand so vor meinen Eltern gelobt hat. Noch dazu mit so einem aufrichtigen Kompliment. Denn ohne Zweifel hat Sophia über die Jahrhunderte tausende, wenn nicht sogar zehntausende junge Frauen kennengelernt.
Und ausgerechnet in mich hat sie sich verliebt.
Einfach Wahnsinn!
Aber auch meine Eltern scheinen zunächst mehr als nur sprachlos zu sein.
Zuerst starren sie mich an. Überrascht. Verwirrt.
Dann wandern ihre durchdringenden Blicke zu Sophia hinüber, aber auch meine Freundin mustern sie keineswegs böse. Eher...neugierig?
„Also, wir...ist das wahr, Mary? Fühlst du dich zu Frauen hingezogen? Davon wussten Ed und ich ja gar nichts!", erwidert meine Mutter und streicht sich verblüfft eine Strähne ihres halblangen, grauen Haars aus der Stirn. Ich aber zucke nur mit den Schultern und beiße mir unsicher auf die Lippe
„Ich wusste davon selbst nichts", gebe ich verlegen zu und werfe meiner jungen Freundin einen liebevollen Blick zu, „aber Sophia...sie ist einfach etwas besonderes. Wir waren so lange nur Freunde, bevor ich in Ashford endlich begriffen habe, wie viel sie mir wirklich bedeutet. Und nun sind wir ein Paar."
Jetzt lächeln auch meine Eltern und meine Mutter schließt mich, wie schon zur Begrüßung vor wenigen Stunden in eine liebevolle Umarmung.
Und mir fällt ein wahrer Stein vom Herzen.
„Hauptsache du bist glücklich, mein Schatz. Und ich hoffe sehr, dass deine Mutter", sie wendet sich mit fragendem Blick an Sophia, „nichts gegen eure Beziehung hat? Immerhin ist Mary ihre Lehrkraft?"
Sophia grinst nur und ich weiß ganz genau was sie gerade denkt.
Und wie Mrs. Scott etwas dagegen hat! Aber darüber werden wir natürlich kein Wort verlieren!
„Am Anfang hat es ihr nicht so wirklich gepasst, aber ich denke mittlerweile hat sie es akzeptiert", antwortet Sophia so diplomatisch wie möglich und zwinkert mir verschwörerisch zu. Ich verkneife mir ein breites Grinsen und lege meinen Kopf auf ihrer Schulter ab, froh, dass meine Eltern nun endlich die ganze Wahrheit um meine Liebe zu St. Rednor wissen. Jedenfalls fast.
„Wir, Kathy und ich, haben auf jeden Fall kein Problem damit. Im Gegenteil, wir freuen uns sehr für euch!", mischt sich nun auch mein Vater ein und meine Mutter nickt einmal zustimmend.
Sophia drückt daraufhin nur sanft meine Hand. Und ich weiß, was das bedeuten soll.
Siehst du? Habe ich dir doch gesagt.
Ich lächle nur glücklich.
Besser hätten meine Eltern wirklich nicht reagieren können.
Und mit Sophia an meiner Seite könnte ich im Moment nicht zufriedener sein!

Hallo meine lieben Leser!
Ich werde aus beruflichen Gründen nicht mehr immer pünktlich am Samstag hochladen können. Aber ich bemühe mich wenigstens am Wochenende bzw. ums Wochenende herum zu updaten. Falls mal ein Kapitel ausfallen muss, seid bitte nicht traurig...
Danke für Euer Verständnis 🤗!

1826Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt