Sophia

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Sophia
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Ich atme noch einmal tief durch, bevor ich langsam die Hand ausstrecke und sanft an Marys Zimmertür klopfe.
Nicht, dass mich der zusätzliche Sauerstoff beruhigen könnte, aber auch nach fast zwei Jahrhunderten sind manche, nur allzu menschlichen Handlungen, noch immer tief in mir verwurzelt.
Die Tür öffnet sich leise und Mary winkt mich zu sich herein. Ihre blauen Augen beginnen zu strahlen, als sie mich erblicken und nehmen gleich darauf einen überraschten Ausdruck an, als die junge Lehrerin die drei roten Rosen in meiner Hand entdeckt.
„Hey, wo hast du die denn her?", fragt sie verwundert und schlingt liebevoll ihre Arme um meinen Hals, bevor sich unsere Lippen zu einem kurzen aber zärtlichen Kuss treffen.
Noch fühlen sich diese Gefühle tief in mir, welche ich bei jeder Art von Zärtlichkeit mit Mary verspüre, fremd an. Aber ich sehne mich trotzdem danach. Und ich genieße sie!
Und doch gibt es da noch immer diese leise Stimme in mir, die versucht, mir Marys Nähe zu verbieten. Zu verderben. Zu vergiften...
Ich versuche diese Gedanken so gut es geht zu unterdrücken...
„Du solltest meinem Grab vielleicht mal wieder einen Besuch abstatten. Sie wachsen ganz in der Nähe davon", sage ich mit einem Schmunzeln und übergebe der Frau, die ich so sehr in mein Herz geschlossen habe, die roten Blumen.
„Kommst du dann auch mit?", fragt Mary über ihre Schulter, als sie schnell im Bad verschwindet, um eine Vase mit Wasser zu füllen und die Rosen hineinzustellen.
„Natürlich", erwidere ich lächelnd und beobachte Mary dabei, wie sie die Vase auf dem Couchtisch zurecht rückt und danach zu der kleinen Garderobe an der Tür zurückkehrt, um sich eine dünne Jacke über die Schultern zu ziehen.
„Danke für die Rosen, Sophia, sie sind wunderschön", sagt sie dann leise und wieder tauschen wir einen gefühlvollen Kuss.
Wie von selbst finden meine Hände ihre und ich verschränken meine Finger mit Marys, ziehe sie so noch näher an mich heran.
Ich habe mich in diese Frau verliebt.
Obwohl alle Vernunft dagegen sprach. Obwohl ich mich solange gegen diese Gefühle gewehrt habe. Gegen diese Art von Liebe.
Aber wenn Mary mich jetzt küsst, Gott, wenn sie mich bloß ansieht, fühlt es sich so an, als würde mein Herz vor Glück zerspringen.
Ich sehne mich nach ihrer Nähe, wenn sie nicht da ist.
Nach ihrem warmen Lächeln, wenn sich dunkle Wolken in meinem Kopf zusammenbrauen.
Und nach ihrer tröstenden Umarmung, wenn Blitz und Donner über St. Rednor hinweg fegen.
Ich brauche Mary!
So viel mehr, als sie mich...
Und trotzdem weicht sie nicht von meiner Seite. Trotzdem sieht sie mich an, als wäre ich das wertvollste auf dieser Welt für sie.
Etwas besonders kostbares...
„Bist du bereit zu gehen?", frage ich leise und führe Mary an der Hand zu ihrer Zimmertür.
„Bereit für unser erstes Date? Auf jeden Fall", erwidert sie nur schmunzelnd und zwinkert mir einmal frech zu, als ich nur belustigt den Kopf schüttle.
Nach all den Monaten ist es für mich immer noch faszinierend, wie leicht und unbefangen Mary mit mir umgeht.
Als wäre ich...ein ganz normaler Mensch.
Aber der bin ich nicht.
Schon lange nicht mehr.
Und trotzdem behandelt sie mich wie einen. Und auch wenn mir das durchaus sehr gut gefällt, es relativiert diesen unumstößlichen und nach wie vor großen Unterschied zwischen uns beiden.
Einen Unterscheid, den ich Mary heute Nacht noch einmal ganz genau vor Augen führen muss.
„Nach dir", sage ich höflich und lasse Mary galant den Vortritt, als wir zusammen die enge Wendeltreppe zur Dachterasse nach oben steigen.
Die Tür ist unverriegelt und so dauert es nicht lange, bis wir in der lauen Abendluft stehen und die faszinierende Frau an meiner Seite mit großen Augen meine Vorbereitungen für diese Nacht bestaunt.
„Sophia! Du hast dir ja total viel Mühe gegeben!", wendet sie sich kurz darauf an mich, aber ich zucke nur verlegen mit den Schultern. Für mich als Geist war es nun wirklich keine große Anstrengung, etliche Decken und Kissen, zusammen mit bereits entzündeten Laternen und ein paar Kleinigkeiten aus der Küche hier auf das Dach zu schaffen.
„Ich habe dir doch versprochen, dass du nicht frieren wirst", erwidere ich lächelnd und bedeute ihr auf den warmen und gemütlichen Decken Platz zu nehmen. Sobald wir gemeinsam auf dem Boden sitzen, ziehe ich Mary in meine Arme und sie legt vertrauensvoll den Kopf auf meiner Schulter ab.
Bis es dunkel wird, reden wir entspannt über dieses und jenes, lachen viel zusammen und tauschen auch den ein oder anderen gefühlvollen Kuss.
Doch je weiter die Nacht voran schreitet, desto mehr drehen sich die Gedanken in meinem Kopf nur noch um ein ganz bestimmtes Thema.
Und schließlich ist es an der Zeit, mich meiner Begleitung anzuvertrauen.
Dieselben Sterne wie bereits vor fast zweihundert Jahren strahlen hell über unseren Köpfen, als ich mich vorsichtig aus Marys Umarmung löse und mich langsam aufsetze. Verwundert folgt sie meinem Beispiel.
„Sophia...?"
„Mary", erwidere ich leise, meine Worte sind mit Bedacht gewählt, „es gibt da etwas, was ich mit dir besprechen muss."
Verwirrt runzelt Mary die Stirn, doch dann streicht sie sich nur eine Strähne ihres blonden Haares aus der Stirn und wickelt die warme Decke enger um ihre Schultern,
Der Blick ihrer blauen Augen, die mir so unbeschreibliche Gefühle breiten können, wenn sie mich glücklich anstrahlen, bleibt weiterhin aufmerksam.
„In Ordnung. Um was geht es?", fragt mich die junge Lehrerin sanft und ich schweige für einen Moment, bevor ich sie wieder tief ansehe.
„Mary...mir ist es ernst mit dir", beginne ich, meine Stimme ist so leise, dass ich beinahe flüstere. Und sie zittert.
„Ich möchte das, was da zwischen uns ist...diese unbeschreiblich schönen Gefühle, endlich in für mich greifbare Worte packen, aber ich-..."
Ich stocke und beobachte genau, wie Mary vorsichtig nach meiner Hand greift und liebevoll ihre Finger mit meinen verschränkt.
„Du kannst mir alles sagen. Alles was du willst, alles was dich beschäftigt. Egal was es auch sein mag", flüstert sie zärtlich und mein Herz macht daraufhin einen aufgeregten Satz.
Ganz als wäre es noch am Leben.
Ganz als würde es noch schlagen.
Als wäre ich noch ein Mensch aus Fleisch und Blut...
Ich versuche mir meine Angst nicht anmerken zu lassen, als ich meinen ganzen Mut zusammen nehme und Mary meine tiefsten Gefühle offenbare.
Sie muss es einfach wissen!
„Mary, ich bin kein Mensch", flüstere ich mit erstickter Stimme und spüre, wie Tränen in meinen Augen aufsteigen. Tränen von denen ich weiß, dass ich sie niemals weinen werden kann.
„Ich bin ein Geist. Und ich werde auch für immer ein Geist bleiben.
Ich werde nicht altern. Ich werde nicht krank werden. Und ich werde nicht sterben.
Ich kann nicht wirklich essen. Ich kann nicht richtig schlafen. Ich kann noch nicht einmal St. Rednor für längere Zeit verlassen.
Ich werde niemals der Partner sein können, den du verdient hast, Mary. Ich kann so viele Dinge nicht tun, die für dich selbstverständlich sind. Ich werde dich noch nicht einmal heiraten können, da es mich faktisch gar nicht gibt. Ich bin nicht mehr als die Luft in deiner Kehle und die Vorstellungskraft deines Geistes.
Ich kann heute hier sein und morgen für immer verschwunden.
Und ich-...ich möchte, dass du dir dessen bewusst bist."
Als ich ende, liegt ein seltsamer Ausdruck in Marys blauen Augen, den ich so noch nie vorher bei ihr gesehen habe. Und sie verschwendet keine Zeit mit Warten.
„Liebst du mich, Sophia?"
Ich starre sie verblüfft an. Doch der Blick ihrer sanften Augen gibt mich nicht frei.
„Liebst du mich?", flüstert sie erneut und legt beide Hände an meine Wangen.
Ich nicke stumm.
„Ja."
Und da spüre ich auch schon Marys fiebrige Lippen auf meinen. Sie zieht mich in einen leidenschaftlichen Kuss hinein und ich finde nicht die Kraft, mich dagegen zu wehren. Ich will es auch gar nicht.
„Mir ist egal wer und was du bist", wispert die hübsche Frau gegen meine Lippen und ihre blauen Augen sehen mich unendlich liebevoll und so aufrichtig an, „für mich zählt nur, dass wir uns lieben. Ich habe mich in dich verliebt, Sophia. So sehr wie noch nie zuvor in meinem Leben. Und ich möchte nur in deiner Nähe sein. Ganz egal, was ich dafür alles aufgeben und akzeptieren muss. Ich werde es tun. Ohne zu zögern."
Als ich diese ehrlichen Worte aus Marys Mund höre, kann ich nicht anders, als sie erneut stürmisch zu küssen. Vorsichtig lasse ich mich zusammen mit ihr zurück in die weichen Kissen sinken, während mein armes Herz vor Freude und Gefühlen beinahe zerrissen wird.
Womit habe ich dieses unfassbare Glück nur verdient?! Nach all den Jahren...
„Sei mit mir zusammen. Bitte", wispere ich in einer kurzen Pause, in der Mary dringend Luft holen muss. Und als ich sehe, wie glücklich mich die junge Lehrerin in meinen Armen daraufhin anstrahlt, weiß ich, dass meine Sorgen unbegründet waren.
Mary meint es absolut ernst mit mir.
„Ja, ja und immer wieder ja", erwidert sie liebevoll und streicht mit dem Daumen über meine Unterlippe, während sich ihr Brustkorb vom Küssen immer noch schnell hebt und wieder senkt.
„Du und ich, wir gehören zusammen. Und ich kann es kaum erwarten zu sehen, wie dieses zusammen aussehen wird."

So, ich wünsche Euch jetzt schon mal einen guten Rutsch 🥳🥂🍾, kommt gesund ins neue Jahr und wir lesen uns da bald wieder ;)
Da Silvester ja diesmal auf einen Freitag fällt, wollt ihr das neue Kapitel um 0 Uhr haben oder doch lieber in der Früh? 😉
LG

1826Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt