Starke Bäume schlagen tiefe Wurzeln

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„Wie lange bleibst du zu Besuch auf St. Rendor?", fragt Sophia mit leiser Stimme, als wir uns aus der Umarmung gelöst haben.
„Du verstehst nicht", erwidere ich sanft und lege vorsichtig eine Hand auf ihren Oberschenkel, „ich bin nicht zu Besuch. Ich bin nach St. Rednor zurückgekehrt, um zu bleiben. Morgen fängt mein Unterricht wieder an."
Als ich das sage, macht Sophia zuerst ein überraschtes Gesicht, dann aber erkenne ich tief empfundene und ehrliche Freude in ihren grünen Augen.
„Meinst du das Ernst?", fragt sie mich leise und ich nicke nur lächelnd.
„Zu hundert Prozent. Ich musste einfach zurückkommen. Ich habe es in Ashford nicht mehr ausgehalten. Und ich habe dich einfach nicht aus meinem Kopf bekommen", gestehe ich der hübschen, jungen Frau und streiche liebevoll über den rauen Stoff ihrer Hose.
„Ich habe auch oft über dich nachgedacht, über uns", murmelt Sophia, ihr Blick ist in die Ferne gerichtet.
„Und worüber genau?", frage ich nach einem kurzen Moment des Schweigens behutsam. Sophia lächelt nur traurig.
„Wie schmerzhaft es für mich war, dich gehen zu lassen. Und wie viel ich darum geben hätte, dich wieder hier bei mir zu haben", antwortet sie wahrheitsgemäß und greift nach meiner Hand, um ihre Finger mit meinen zu verschränken.
„Ich wollte, ich hätte dir an unserem letzten Abend gesagt, was ich für dich empfinde, aber ich... ich hatte Angst. Vor deiner Reaktion und- vor mir selbst", sagt Sophia und sieht mich unsicher an.
„Angst vor meiner Reaktion?", frage ich vorsichtig nach. Die junge Frau mit den grünen Augen zögert einen Moment.
„Vor deiner Zurückweisung. Oder davor, dass ich dich daran hindern könnte, das zu tun, was dir bestimmt ist. Ich weiß es nicht..."
Sophia beißt sich auf die Lippe und schüttelt dann nachdenklich den Kopf.
„Mary, ich-...ich bin nicht wirklich gut was das Thema Liebe und Gefühle angeht. Meine Erfahrungen hierzu sind dürftig und schon eine halbe Ewigkeit her. Ich weiß nicht einmal wie ich mich jetzt dir gegenüber verhalten soll..."
„Hey", unterbreche ich Sophia mit einem leichten Lächeln und hebe langsam die Hand, um ihr mit den Fingerspitzen eine Strähne ihres welligen, dunkelbraunen Haares aus der Stirn zu streichen.
„Darüber brauchst du dir gar keine Sorgen zu machen. Uns zwei verbindet doch nach wie vor eine innige Freundschaft. Und alles was darüber hinaus geht...ist ein wunderschönes Gefühl aber mehr muss es auch gar nicht sein. Nicht, wenn du es nicht willst", sage ich sanft und sehe der jungen Frau vor mir tief in die Augen.
„Ich...", setzt Sophia an, nur um dann mit leiser Stimme fortzufahren, „ich möchte es. Mit dir."
Ein glückliches Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht und als Sophia dieses Lächeln kurz darauf ebenso erwidert, weiß ich, dass dieser Moment ein Anfang sein kann.
Der Anfang von etwas ganz Großem. Und etwas wunderschönem.
Nach einem kurzen Moment der Stille, erhebt sich Sophia von unserem Tisch und hilft mir ebenfalls auf die Beine.
„Soll ich dir beim Auspacken helfen? Oder möchtest du das lieber alleine tun?", fragt sie sanft. Als Antwort verschränke ich meine Finger mit ihren.
„Rate mal."
Sophia schmunzelt nur und hält mir dann charmant die Tür auf, sodass wir zusammen den stickigen Dachboden verlassen können. Auf Zehnspitzen schleichen wir die knarzende Treppe hinunter, immer darauf bedacht niemandem zu begegnen. Als wir bei meinem neuen und gleichzeitig auch alten Zimmer angekommen sind, schließe ich auf und wir betreten gemeinsam den gemütlichen Raum. Alles sieht noch genauso aus, wie ich es vor ein paar Monaten verlassen habe.
„War jemand in meiner Abwesenheit hier?", frage ich Sophia, während ich die Gardinen zur Seite ziehe und das Fenster öffne.
„Nicht dass ich wüsste", antwortet sie schulterzuckend und lehnt sich an die geschlossene Tür, „Mrs. Scott hat zwar nach Ersatz für dich gesucht, aber das hätte alles noch eine Weile gedauert."
Ich nicke nur zufrieden und deute dann mit dem Daumen in die Richtung des Parkplatzes, auf dem mein vollbeladenes Auto steht.
„Ich muss mein Gepäck noch aus dem Wagen holen", sage ich und krame bereits nach meinen Autoschlüsseln in meiner Tasche.
„Ich hol es dir. Warte einen Moment", erwidert Sophia schnell und bevor ich etwas erwidern kann, ist sie auch schon rückwärts durch die Tür verschwunden.
Und tatsächlich dauert es nur wenige Sekunden bis die junge Frau mit den ersten Koffern und Kartons wieder auftaucht und ich mit dem auspacken beginnen kann.
Diesmal gebe ich mir besonders viel Mühe. Warum? Weil es hoffentlich für eine sehr, sehr lange Zeit sein wird.
„Das war die letzte Tasche. Womit kann ich dir am besten helfen?", sagt Sophia als sie behutsam meinen Koffer im Wohnzimmer abstellt.
„Du kannst mir beim Einräumen im Schlafzimmer helfen. Der Rest ist erstmal nicht so wichtig", antworte ich sanft und gemeinsam betreten wir den kleinen Raum, in dem ich bereits etliche Taschen auf dem Boden aufgeklappt habe.
„Wie hast du es eigentlich geschafft, so schnell von Ashford wieder nach St. Rednor zu wechseln?", fragt Sophia interessiert, als wir gemeinsam meine Klamotten in den Schrank sortieren.
„Ich habe Mrs. Scott angerufen und ihr erzählt wie schlecht es mir in Ashford ging", erwidere ich wahrheitsgemäß und die junge Frau wirft mir einem schnellen Blick zu, „und offenbar hat sie an meiner Stimme erkannt, wie ernst mir die ganze Sache ist. Hätte sie mich nicht zurückkommen lassen...ich weiß nicht was ich dann gemacht hätte."
Nun lässt Sophia die Bluse in ihrer Hand besorgt sinken.
„War es wirklich so schlimm?"
Ich nicke einmal stumm.
„Ich habe noch nie so oft in meinem Leben geweint, wie auf Ashford. Es war einfach...unaushaltbar. Und irgendwann konnte ich mir auch nicht mehr einreden, dass ich es irgendwie schaffen werde. Ich habe alles auf St. Rednor vermisst. Die Ruhe. Die Mädchen. Und...dich."
Ich werfe Sophia ein schüchternes Lächeln zu, während ich meine Hosen zusammenlege. Die junge Frau an meiner Seite erwidert es ohne zu zögern und hängt meine Bluse in ihrer Hand auf einen Kleiderbügel. Dann faltet sie nachdenklich ihre Hände vor dem Körper.
„Hast du Lust nach dem Abendessen ein paar Stunden mit mir in die Kappelle zu gehen?", fragt sie mich dann sanft, „wir könnten dort ganz ungestört weiter reden."
Die Antwort darauf fällt mir mehr als nur leicht.
„Sehr, sehr gerne", erwidere ich und Sophia lächelt warm.
„Das ist schön. Dann triff mich in zwei Stunden dort. Ich werde auf dich warten", sagt sie sanft und tritt einen Schritt auf mich zu.
Mein Herz beginnt sogleich schneller zu schlagen, als die junge Frau langsam die Hand hebt und mit den Fingerspitzen einmal zart meine Wange berührt.
„Ich freue mich auf dich", sagt sie leise und sieht mir tief in die Augen.
„Ich mich auch auf dich", erwidere ich mit klopfendem Herzen und bevor ich noch etwas anders tun oder sagen kann, flimmert die Luft rund um Sophia und die hübsche junge Frau ist auch schon verschwunden.

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