Wiedervereint

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Ich kann mich einfach nicht von Sophia lösen. Kann nicht wirklich begreifen, dass sie endlich wieder hier ist. Hier bei mir! Und dass es ihr augenscheinlich gut geht...
„Weißt du eigentlich, was ich für eine Angst um dich hatte?! Du hättest verrückt werden können! Oder gar nicht mehr zurück kommen können!! Und was wäre dann gewesen? Wenn ich mich gerade nicht so freuen würde dich gesund und munter wiederzusehen, wäre ich jetzt wahnsinnig sauer auf dich!", mache ich meiner jungen Freundin heftige Vorwürfe, nur um sie kurz darauf wieder in einen stürmischen Kuss zu ziehen. Sophia aber bleibt ganz ruhig und sieht mich aus ihren grünen Augen aufrichtig an.
„Ich weiß, Mary...und du hast auch jeden Grund wütend auf mich zu sein. Ich habe dich alleine gelassen und ein hohes Risiko auf mich genommen. Und ich habe dir nicht einmal meine Beweggründe erzählt. Ich war egoistisch und abweisend zu dir. Und das tut mir aufrichtig leid. Möchtest du dir trotzdem anhören, was ich herausgefunden habe?"
Ich bin erst einmal still. Denn mit so einem bereitwilligen Schuldeingeständnis der hübschen Frau habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Jedenfalls nicht nach so kurzer Zeit. Aber natürlich interessiert es mich brennend, was Sophia über ihre Familie herausgefunden hat. Jetzt wo ich mir keine Sorgen mehr über ihr Wohlergehen zu machen brauche.
„Na los, spuck es schon aus. Aber danach reden wir noch einmal über dein Verhalten! So einfach lasse ich dich nämlich nicht davon kommen, junge Dame!", erwidere ich seufzend und Sophia nickt verständnisvoll. An der Hand führt sie mich zu der vordersten Kirchenbank hinüber und wir lassen uns dicht nebeneinander dort nieder.
Bevor Sophia jedoch zu sprechen beginnt, wirft sie einen unbehaglichen Blick auf das noch immer schwach vor sich hin brennende Teelicht. Und ich verstehe sofort.
Mit einem tiefen Atemzug erhebe ich mich von meinem Platz und blase die kleine Flamme entschieden aus. Sofort bricht Dunkelheit über uns herein.
„Danke, Mary", sagt meine Freundin daraufhin sanft und ich setze mich zurück auf das dünne Polster der hölzernen Bank.
„Dafür nicht. Also? Erzähl mir alles", entgegne ich gespannt und da beginnt Sophia zu berichten.
„Der Besuch deiner Eltern vor einigen Tagen...er hat mich zutiefst aufgewühlt. Ich dachte ich wäre stark genug, doch das war ich nicht. Familie...Familie ist etwas so besonderes. Vor allem für die Menschen, die selbst keine mehr haben."
Die junge Frau mit den grünen Augen senkt den Kopf und ich halte ihre Hand nur noch fester in meiner, streiche sanft über ihre warme Haut.
„Und ich bekam furchtbare Sehnsucht nach meiner eigenen Familie. Also suchte ich alles zusammen, was ich von ihnen noch übrig hatte, um mich ihnen irgendwie näher zu fühlen...Zugegeben, viel war es nicht und das meiste stammt von meinem Vater. Aber als ich gerade sein altes Notizbuch durchblätterte, fielen mit etliche vergilbte Briefe daraus entgegen. Ein paar davon hatte ich gelesen, aber es gab auch noch ungeöffnete. Sie waren alle von und für den befreundeten Anwalt meines Vaters und der Inhalt erschien mir doch immer sehr trocken und ernüchternd. Der Briefwechsel drehte sich zumeist lediglich um die Finanzen und Immobilien meines Vaters. Kurzum, sie erschienen mir nicht besonders lesenswert."
Sophia macht eine kurze Pause und zuckt nur hilfesuchend mit den Schultern. Ich nicke, als Zeichen, dass ich ihre Denkweise durchaus nachvollziehen kann. Wen interessieren schon genaue Zahlen und Daten von Vermögen und Häusern, die einem sowieso nicht mehr gehören?
„Aber in dieser Nacht...ich weiß nicht warum, aber ich öffnete nach und nach alle Briefe. Und als ich schließlich einen der ungeöffneten zur Hand nahm und las, traf mich beinahe der Schlag!"
Meine Freundin atmet einmal tief durch und in ihren grünen Augen spiegeln sich die verschiedensten Emotionen wider.
„Ich weiß, was du meinst...ich habe ihn auch gelesen", flüstere ich andächtig und Sophia beißt sich stumm auf die Lippe.
„Ich habe einen Bruder, Mary! Ich habe seinen Namen auf einem Grabstein neben dem seiner Mutter entdeckt. Er wurde 1848 geboren. In dem gleichen Jahr, in dem mein Vater starb."
Ich starre Sophia mit offenem Mund an. Das ist nicht ihr ernst!
Ich meine, natürlich hatte auch ich mir schon so etwas ähnliches gedacht, aber es noch einmal aus ihrem Mund zu hören, macht es beinahe real. Wahnsinn!
„Wie hieß er?", frage ich verblüfft und da beginnt Sophia zu lächeln.
„Ich habe zuerst meinen Augen nicht getraut. Aber sie haben ihn tatsächlich Henry genannt. Henry Ward. Er hat den Nachnamen seiner Mutter."
Nun bin ich wirklich überrascht. Aber noch eine ganz andere Frage spukt mir im Kopf herum.
„Warum bekam er nicht den Namen deines Vaters, deinen Namen? Weil Robert und Catrina nie verheiratet waren?"
Sophia nickt und drückt zart meine Finger in ihren.
„Auch. Aber ich bin mir beinahe sicher, dass niemand außer Catrina wusste, wer der leibliche Vater des Babys war. Der Brief in meinem Zimmer. Er wurde nie abgeschickt. Sonst wäre er ja nicht mehr in den Unterlagen meines Vaters sondern in denen seines Anwalts. Folglich wusste niemand, dass mein Vater nach mir noch ein weiteres Kind gezeugt hatte. Meinen Halbbruder."
Die Worte verklingen in der Stille.
Es klingt so unwirklich.
Aber es scheint tatsächlich wahr zu sein.
„Das heißt...du hast noch Familie? Irgendwo dort draußen?", flüstere ich nach einer Weile andächtig und sehe Sophia in der immer dunkler werdenden Kapelle sanft an.
Meine Freundin stützt ihr Kinn in ihre freie Hand und blickt tief und ernst zurück.
„Ich weiß es nicht. Aber möglich ist es auf jeden Fall. Henry starb 1903. Vielleicht hatte er Kinder, vielleicht auch nicht. Aber das habe ich nicht mehr in Erfahrung bringen können. Da zog es mich bereits zurück nach St. Rednor."
Sie blinzelt mir charmant zu und ich drücke die warme Hand der jungen Frau nur noch fester.
„Du warst drei ganze Tage verschwunden-", will ich verwundert einwerfen, doch Sophia schüttelt nur lächelnd den Kopf und legt zärtlich ihre Fingerspitzen an meine Wange, streichelt sanft über meine Haut. In meinem Bauch fliegen die Schmetterlinge wild umher.
„Aber ich war nur einen von ihnen wirklich weg. Den Rest habe ich in der unmittelbaren Umgebung von St. Rednor verbracht. Gerade nah genug, dass ich es aushalten konnte und doch fern genug, um in Ruhe über alles nachdenken zu können. Ich war nie weit von dir entfernt, Mary. Ich lasse dich nicht alleine."
Sophias leise Worte jagen mir eine Gänsehaut über den Rücken. Und auch wenn ich weiß, dass ich gerade wahnsinnig wütend auf sie sein sollte, -ich fühle nichts dergleichen.
Nur grenzenlose Erleichterung und... Liebe.
„Ich liebe dich. Tu mir das nie wieder an. Versprich es mir."
Meine Stimme ist ernst und auch mein Blick ist unerbittlich. Doch zum Glück scheint Sophia nicht einen Moment lang an Widerworte gedacht zu haben.
„Ich verspreche es. Für jetzt und für alle Zeiten. Ich liebe dich, Mary. Mehr, als du es ahnst", erwidert die junge Frau mit den grünen Augen und lächelt liebevoll.
Mehr brauche ich nicht mehr.
Beinahe gleichzeitig bewegen wir uns aufeinander zu und da treffen auch schon ihre zärtlichen Lippen auf meine.
Und ich küsse zurück.
Lege all meine Gefühle zu Sophia in diesen Kuss. Und hoffe inständig, dass sie begreift.
Dass sie begreift, wie sehr ich mich bereits in sie verliebt habe. Und wie sehr sie mir am Herzen liegt.
Dass ich es nicht mehr ertrage, Angst um sie haben zu müssen. Angst um ihr Leben. Und ihren klaren, aufgeweckten Verstand.
„Wenn ich morgen aufwache, dann nur in deinen Armen. Verstanden?", flüstere ich heiser zwischen zwei besonders gefühlvollen Küssen und sehe tief in diese grünen Augen, die bereits so viel erlebt haben.
Sophia lächelt amüsiert und stiehlt sich noch einen innigen Kuss, bevor sie schließlich schelmisch antwortet.
„Wie Sie wünschen, Miss Davis."
Es ist nicht das erste Mal, dass sie mich so nennt. Aber ich spüre, dass es immer noch die gleichen Auswirkungen auf mich hat, wie damals.
„Bett, jetzt!!"

Hallo meinen lieben Leser!
Ich melde mich nach langer Pause mit einem neuen Kapitel zurück. Zwar werden nicht mehr allzu viele folgen, aber ich hoffe ihr könnt sie dennoch genießen und die Geschichte findet einen schönen Abschluss. :)

Bis dahin,
LG

1826Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt