Wahre Freunde

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Das große Lagerfeuer prasselt munter in der Dunkelheit, während dünne Rauchfahnen in den schwarzen Nachthimmel aufsteigen und die Wärme der Flammen durch meine leichte Sommerjacke dringt.
Rund um das Lagerfeuer herum sitzen an unzähligen Bänken und Tischen alle Schülerinnen und Lehrerinnen von St. Rednor versammelt, lachen und reden angeregt miteinander, essen Würstchen vom Grill oder tanzen zu der fröhlichen Musik, die vom Internatsgebäude zu uns herüber getragen wird.
Selbst Mrs. Scott ist trotz der späten Stunde noch anwesend und trinkt zusammen mit Miss Williams und Miss Andrew bestimmt schon den dritten Schnaps, während Miss Breston jedem in ihrer Hörweite eine Geschichte nach der anderen über ihre Jugend erzählt.
Ich schmunzle nur und wende mich von meinen Kollegen ab, um wieder ein Auge auf die ausgelassen feiernden Mädchen zu haben.
Heute Abend wird hier auf St. Rednor das traditionelle Abschiedsfest vor den großen Sommerferien gefeiert. Denn bereits morgen packen alle meiner Schülerinnen ihre Koffer und reisen nachhause zu ihren Familien oder Freunden. Im Herbst dann werden sie pünktlich zu Beginn des neuen Schuljahres nach St. Rednor zurückkehren.
Und natürlich wird in dieser Nacht auch die 13. Klasse verabschiedet, die sich schon sehr bald in alle verschiedene Himmelsrichtungen verstreuen wird. Sei es zum Studieren, einer Ausbildung oder einfach einer langen Reise.
Ich kann Tessa ab und zu zwischen ihren Freundinnen an einem der Tische erblicken, aber sie macht diesmal keinerlei Anstalten auf mich zuzukommen. Und das ist wohl auch besser so.
Mein Blick wandert von Clarissa, Louise und Paula, die laut lachend ein Kartenspiel spielen hinüber zu Ina und Ramona, die sich irgendwas auf Ramonas Handy ansehen und bleibt dann bei Sina und Caroline hängen, die zu dieser späten Stunde bereits sehr müde aussehen. Normalerweise müssten die 5.-7. Klässlerinnen zu dieser Uhrzeit natürlich schon längst im Bett sein, aber heute gibt es eine Ausnahme. Denn das Abschiedsfest will ihnen natürlich niemand verbieten.
„Na? Willst du dich nicht doch noch um entscheiden und auch nach Hause fahren?", fragt plötzlich eine amüsierte Stimme neben mir und als ich den Kopf drehe, steht dort Olivia und reicht mir lächelnd ein halb volles Weinglas. Ich schmunzle nur und schüttle dann langsam den Kopf.
„Ich werde einen sehr angenehmen und ruhigen Sommer ohne euch Nervensägen auf St. Rednor haben", entgegne ich neckend und Olivia lacht leise auf.
„Da bin ich mir sicher. Vor allem mit Miss Robinson und Miss Andrew. Die bleiben nämlich auch hier", sagt sie dann und rollt einmal genervt mit den Augen. Ich winke nur gutmütig ab. Ich habe nicht vor mit irgendjemand anderem außer Sophia Zeit zu verbringen.
„Das wird schon nicht so schlimm werden. Mach dir keine Sorgen", entgegne ich entspannt und nehme einen Schluck aus meinem Weinglas.
Meine junge Kollegin aber lässt nicht locker.
„Hmm...vielleicht schaut Tessa ja ab und zu bei dir vorbei?"
Ich verschlucke mich beinahe an meinem Wein und kann die rote Flüssigkeit in meinem Mund gerade noch so runterschlucken, bevor ich das Husten anfangen muss.
„Bit-...Bitte was?!", krächze ich mehr als dass ich es sage, doch Olivia grinst nur wissend.
„Also bitte Mary. Meinst du ich bin blind? Es weiß doch mittlerweile fast jeder, dass Tessa in dich verliebt ist. Und auch du bist seit deiner Rückkehr auf St. Rednor nur noch am strahlen! Also dachte ich, vielleicht-"
„Nein! Nein! Und nochmals Nein! Vergiss es, Olivia!", sage ich entsetzt und schüttle vehement den Kopf, „Tessa steht auf mich, ja! Aber ich habe keinerlei Interesse an ihr, okay? Setz bloß nicht solche Gerüchte in die Welt..."
Nicht auszudenken was passieren würde, wenn auf der Schule die Runde machen würde, ich hätte etwas mit einer ehemaligen Schülerin! Auch wenn das streng genommen die Wahrheit ist...Aber Sophia ist so ehemalig, dass sie einfach nicht zählt! Jedenfalls nicht so, wie man es im herkömmlichen Sinn verstehen würde.
„Ach komm schon, Mary! Ich nehme es dir doch gar nicht übel. Aber ich weiß, dass da etwas ist. Ich kenne dich inzwischen gut genug. Also?"
Olivia sieht mich neugierig und abwartend an, doch ich schüttle nur erneut den Kopf und verschränke trotz Weinglas die Arme vor der Brust.
„Na gut. Ich werde es schon noch rauskriegen...und bis dahin hole ich mir ein paar Bratwürstchen", grinst meine junge Kollegin und verabschiedet sich dann mit einem fröhlichen Winken in Richtung Würstchengrill und Salattheke.
Ich aber kehre dem prasselnden Lagerfeuer entschieden den Rücken und durchquere nachdenklich den nächtlichen Garten von St. Rednor. Je weiter ich mich vom Feuer entferne, desto kühler wird es und auch das Licht der züngelnden Flammen ist schon bald erloschen.
Es dauert jedoch nicht lange bis ich die alte Eiche erreicht habe, in der Sophia vor meinem kurzen Auszug einmal gesessen hatte. Und wie ich gehofft hatte, sind auch diesmal die unteren und knorrigen Äste des dicken Baumes nicht leer.
„Wie ist die Aussicht da oben?", rufe ich leise zu Sophia hinauf, die nur lässig auf einer breiten Astgabel sitzt, sich mit dem Rücken an den Stamm lehnt und ein Bein baumeln lässt.
„Ganz gut", antwortet sie lächelnd und als ich vor den mächtigen Wurzeln der Eiche schließlich Halt mache, springt Sophia elegant zu mir herunter.
„Aber hier unten noch besser", schmunzelt meine Freundin und gibt mir kurz darauf einen sanften Kuss.
„Ich dachte du bist auf dem Fest?"
Ich zucke nur mit den Schultern und schlinge beide Arme um Sophias Taille, sehe ihr tief in die geheimnisvollen, grünen Augen, die mich so faszinieren.
„Da war ich auch. Aber es macht nicht einmal halb so viel Spaß ohne dich", murmle ich und dränge dann zart meine Lippen gegen Sophias. Mein Herz hüpft glücklich, als meine hübsche Freundin den Kuss sofort erwidert.
„Wenn das Feuer nicht wäre-", setzt Sophia leise zu einer Erklärung an, aber ich schüttle schnell den Kopf.
„Schon gut, Sophia. Außerdem wäre dann immer noch das Problem mit den Mädchen und Mrs. Scott. Also lass uns lieber hier im Schatten bleiben."
Meine Freundin lächelt nur leicht und legt dann sanft einen Finger unter mein Kinn, um es leicht anzuheben. Ihre grünen Augen leuchten förmlich in der Dunkelheit.
„Keine Angst, dass ich dir etwas antun könnte? Immerhin ist bald Geisterstunde...", flüstert sie mit rauer Stimme. Ein kalter Schauer überläuft meinen Rücken und ich umfasse Sophias Hüften fester.
„Ich vertraue dir. Voll und ganz", erwidere ich ebenso leise und streiche mit meinen Lippen zart über Sophias, „du könntest fast alles mit mir tun, was du willst."
„Bist du dir sicher? Deine Schreie würde tief im Wald niemand mehr hören", wispert Sophia gegen meine Lippen und stiehlt sich für den Bruchteil einer Sekunde einen sehnsüchtigen Kuss von mir. Mein Herz pocht aufgeregt gegen meine Rippen.
Ich kann Sophia einfach nicht widerstehen!!
„Ich hoffe doch, dass sie niemand hören würde", flüstere ich anzüglich und beiße mir verführerisch auf die Unterlippe. Die junge Frau in meinen Armen lacht leise auf.
„Du bist unmöglich, Mary!"
Und dann küsst sie mich.
Fordernd. Leidenschaftlich. Intensiv.
Mir bleibt beinahe der Atem weg und ich bin sehr froh, dass mich Sophia in diesem Augenblick fest in ihren Armen hält, damit ich gerade stehen bleibe.
Trotzdem lasse ich es mir nicht nehmen, Sophias Kuss mindestens genauso feurig zu erwidern und mit ihr um die Dominanz in dieser wunderschönen Berührung zu kämpfen.
„Ich bin so verliebt in dich, Mary", gesteht mir meine junge Freundin leise, als wir uns widerstrebend voneinander lösen, um nach Luft zu schnappen. Zumindest muss ich das tun...
„Bist du das wirklich?", frage ich glücklich lächelnd, während in meinem Bauch bereits die Schmetterlinge tanzen.
„So, so sehr", bestätigt Sophia ihre Worte und legt eine sanfte Hand an meine Wange, bevor sie mich erneut küsst. Zärtlich. Gefühlvoll. Mein armes Herz wird fast zerrissen, so voller Emotionen ist es in diesem Moment.
„Ich empfinde genau dasselb-"
„Ha! Ich wusste es!"
Erschrocken springen Sophia und ich auseinander und starren Olivia perplex an.
Meine Kollegin jedoch verschränkt nur selbstgefällig grinsend die Arme vor der Brust und mustert Sophia mit unverhohlener Neugier.
„Ich hab sie nicht bemerkt", flüstert mir Sophia leise zu, doch ich bin ihr nicht böse. Ich frage mich nur, was ich Olivia jetzt bloß erzählen soll!
„Und wer bist du? Dich hab ich hier noch nie gesehen", fragt Olivia freundlich an Sophia gewandt und wirft mir kurz darauf einen bedeutungsvollen Blick zu. Ich jedoch arbeite in Gedanken fieberhaft an einer Ausrede.
Was könnte Olivia mir jetzt noch glaubhaft abnehmen?!
„Mary?", fragt Sophia ruhig und sieht mich für einen Moment fragend an. Und ich weiß, was sie mir damit sagen möchte.
Soll ich die Wahrheit sagen?
In meinem Kopf wirbeln sofort tausende Szenarien durcheinander, eines schlimmer als das andere, aber ich beschließe, dass uns fast keine Alternative bleibt. Denn eine Schülerin von St. Rednor kann Sophia wohl kaum sein. Die kennt Olivia besser als ich. Und auf die Schnelle fällt mir nun auch keine andere Erklärung ein.
„Versuch es", gebe ich mich geschlagen und nicke Sophia aufmunternd zu, bevor ich meine Hand in ihre schiebe und unsere Finger demonstrativ miteinander verschränke.
„Miss Lohan. Glauben Sie an übernatürliche Dinge?", fragt Sophia vorsichtig und ich lege zusätzlich noch eine Hand auf ihren Arm. Olivia beobachtet uns dabei mit großer Neugier.
„Ähm...Nein nicht wirklich, wieso?", erwidert Olivia freundlich und blickt von mir zu Sophia und wieder zurück, „muss ich das denn, um zu sehen dass ihr beide hier schon fast miteinander rumgemacht habt?!"
Wäre die Situation nicht so unangenehm, würde ich jetzt vermutlich lachen. Aber so schweige ich nur und überlasse Sophia das Wort.
„Weil...ich schon sehr lange auf St. Rednor lebe", versucht meine Freundin Olivia behutsam auf die Wahrheit vorzubereiten, doch die versteht rein gar nichts. Natürlich nicht.
„Kann nicht sein. Ich kenne alle Mädchen auf St. Rednor. Und dich habe ich definitiv noch nie gesehen!", entgegnet Olivia lachend. Nun ergreife ich die Initiative.
„Olivia...sagt dir der Name Sophia Cavender etwas?", frage ich ruhig und sehe meine Kollegin fest an.
Olivia zieht erst nachdenklich die Augenbrauen zusammen, dann blitzt plötzlich die Erkenntnis in ihren Augen auf.
„Ach du meinst das angebliche Gespenst? Die verstorbene Tochter von St. Rednors Erbauer?"
Ich nicke ernst und drücke sanft Sophias Hand in meiner. Dann fahre ich so gefasst wie möglich fort.
„Ganz genau. Olivia...das hier ist Sophia. Sie ist kein Mythos. Sie ist eine reale Person."
Nun ist es mucksmäuschenstill. Während Sophia und ich Olivia gespannt anschauen, starrt diese mit aufgerissenen Augen zu meiner Freundin hinüber und bekommt den Mund vor Ungläubigkeit nicht mehr zu. Dann aber verändert sich etwas in ihrem Gesicht und sie beginnt herzhaft zu lachen.
„Der war gut! Fast hätte ich es geglaubt! Aber die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend!"
Sophia und ich werfen uns nur einen nachdenklichen Blick zu, während Olivia sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln wischt.
Und wieder gebe ich meiner Freundin mit einem leichten Kopfnicken meine Zustimmung.
Tu es.
„Weil ich es bin", antwortet Sophia ruhig und löst sanft ihre Hand aus meiner um, ein paar Schritte auf Olivia zuzugehen, „geben Sie mir Ihre Hand."
„Was?", lacht diese amüsiert und mustert Sophia weiterhin neugierig, „warum sollte ich das tun?"
„Tu es einfach. Du wirst gleich verstehen warum", schalte ich mich nun ein und verschränke gespannt die Arme vor der Brust.
Ich weiß, was jetzt passieren wird.
Meine junge Kollegin zögert noch einen Augenblick, doch dann kommt sie der Aufforderung nach und hält Sophia stirnrunzelnd ihre Hand hin.
Ich sehe zu, wie meine Freundin vorsichtig ihre eigene Hand darauf legt. Für eine Sekunde scheint alles ganz normal.
Doch dann gleitet Sophias Hand durch Olivias hindurch, als bestünde diese nur aus Luft...

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