Dunkle Nächte, helle Sterne

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Als ich an diesem Abend auf den Dachboden steige, erwartet mich bereits das dämmrige Licht der einzelnen Glühbürne. Mit dem Rücken zu mir steht Sophia leicht vorne über gebeugt an einem alten Schultisch und betrachtet dort augenscheinlich etwas.
Ich zögere noch kurz, doch als sie keine Anstalten macht sich umzudrehen, schleiche ich auf Zehenspitzen näher und lege urplötzlich beide Hände auf ihre Schultern.
„Buh!", flüstere ich grinsend in ihr Ohr, aber im Gegensatz zu mir, zuckt Sophia kein bisschen zusammen.
„Wenn du ein gutes Gespenst werden möchtest, musst du noch viel üben", erwidert sie bloß, doch ich kann das Lächeln auf ihrem Gesicht deutlich sehen.
„Pff, ich habe auch noch keine zweihundert Jahre Übung", erwidere ich schnippisch und gehe einmal um den Tisch herum, sodass ich Sophia gegenüber stehe.
Wie ich jetzt erst erkennen kann, liegt auf der Tischplatte eine alte Karte. Oder besser gesagt, die vergilbte Zeichnung eines Grundrisses. Und laut den schnörkeligen Buchstaben oben links in der Ecke, handelt es sich hierbei um den Grundriss von St. Rednor.
„Wo hast du das denn ausgegraben?", frage ich skeptisch und Sophia wirft mir einen kurzen Blick zu. Ihre grünen Augen sehen nachdenklich aus.
„In meinem Zimmer", erwidert sie gedankenverloren und streicht sich eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares hinter ihr Ohr.
„Du hast ein Zimmer?", frage ich, diesmal einigermaßen verblüfft. Denn irgendwie war ich davon ausgegangen, dass sich Sophia...nun ja...mal hier und mal da aufhält?
„Ja, schon seitdem ich hier bin. Es befindet sich obersten Stock des Ostflügels. Mein Vater hat es nach meinem Tod so belassen, wie es war", antwortet Sophia ruhig und studiert weiterhin konzentriert die alte Zeichnung.
Als ich daraufhin stumm bleibe, hebt sie erneut den Kopf und schenkt mir ein keckes Lächeln.
„Was dachtest du denn, wo ich nachts meine Zeit verbringe?"
„Tja, keine Ahnung. In der Geisterbahn, vielleicht?", entgegne ich spöttisch und grinse, doch Sophia lacht nur leise und schüttelt den Kopf.
„Ich liebe deinen Humor", erwidert sie trocken und schon wieder merke ich, dass ich rot werde. Sophia schafft es einfach immer wieder.
„Okay, aber ich weiß jetzt immer noch nicht, was es mit diesem Plan auf sich hat", werfe ich ein und verschränke demonstrativ die Arme vor der Brust.
„Ich suche dir und Tessa einen Ort für eure Zweisamkeit aus", kontert Sophia frech und ich atme gespielt theatralisch aus.
„Du spielst mit dem Feuer, junge Dame!", weise ich Sophia belustigt, jedoch auch mit einem ernsten Hintergedanken zurecht. Kaum haben diese Worte allerdings meinen Mund verlassen, legt sich plötzlich ein Schatten auf Sophias hübsches Gesicht und sie wendet sich von mir ab.
Stirnrunzelnd beobachte ich ihre Reaktion, ich verstehe aber nicht ganz die Beweggründe dahinter. Bevor ich aber nachfragen kann, rollt Sophia die alte Papierrolle entschlossen zusammen und legt sie sorgfältig auf die linke Seite des Tisches.
„Warst du schon einmal nachts auf dem Dach?", fragt die junge Frau unvermittelt mit einem kleinen Lächeln und ich sehe sie überrascht an.
„Auf dem Dach?", wiederhole ich skeptisch, „ich dachte, wir sind schon im Dach."
Sophia schmunzelt daraufhin nur und winkt mich zu sich.
„Hier schon, ja. Aber es gibt eine Art Dachterrasse im Ostflügel von St. Rednor. Von dort aus hat man einen wunderschönen Blick über den ganzen Garten bis zum Wald", erklärt mir Sophia und ich folge ihr hinüber zur Dachbodentür, „ich würde dir aber empfehlen eine dickere Jacke anzuziehen, die Nächte sind noch kühl."
Nachdem ich ohne zu zögern zugestimmt habe, steigen wir gemeinsam die alte, knarzende Treppe hinunter und halten kurz vor meinem Zimmer an, damit ich mir meinen Mantel und einen dünnen Schal holen kann.
„Komm doch schnell mit rein", sage ich leise und ziehe Sophia am Ärmel ihres Hemdes in mein Wohnzimmer hinein. Es ist dasselbe tiefausgeschnittene Leinenhemd, das sie auch schon bei unserem ersten richtigen Gespräch getragen hatte.
„Es ist ja nicht so, dass ich mich unsichtbar machen könnte", neckt mich Sophia sanft, doch sie folgt meiner Einladung und steht nun mitten in meinem Zimmer. Und ich finde das auf eine gute Art und Weise einfach nur skurril.
„Ich muss sagen, diese neue Einrichtung gefällt mir wirklich gut", stellt die junge Frau hochachtungsvoll fest und sieht sich neugierig überall um.
Ich schmunzle nur und ziehe mir schnell meinen Mantel und den Schal an. Die Nächte sind wirklich noch empfindlich kalt.
„Ach, ich habe noch ein paar antike Möbel im Schlafzimmer", entgegne ich und gehe zu Sophia hinüber, „und so ein altes Ding aus 1807 steht auch noch in der Gegend rum."
Wir grinsen uns wortlos an und ich touchiere im Vorbeigehen spielerisch Sophias Schulter mit meiner. Dann verlassen wir zusammen mein Zimmer und machen uns durch die dunklen Gänge auf den Weg zum Ostflügel.
„Warum ist es hier nachts eigentlich immer so finster? Es gibt doch genug Lampen", erkundige ich mich leise bei Sophia, während ich mit meiner Handytaschenlampe den Boden vor meinen Füßen ausleuchte.
„Natürlich gibt es die. Nur unter der Woche wird das Licht im Flur um Punkt 21:00 Uhr automatisch abgeschaltet. Das soll die Mädchen in ihren Betten halten und Ruhe einkehren lassen. Am Wochenende brennen sie auch nachts", erklärt Sophia bereitwillig und führt mich eine enge Wendeltreppe hinauf. An deren Ende befindet sich eine niedrige Tür, die mit einem eisernen Riegel verschlossen ist. Mich wundert, dass hier ausnahmsweise kein dickes Vorhängeschloss baumelt.
Als Sophia den Riegel zurück schiebt und die Tür mit einem Ruck öffnet, strömt kühle Luft zu uns hinein und ich kann sogar einen schmalen Streifen Sternenhimmel sehen.
„Gib mir deine Hand", sagt Sophia sanft und hilft mir dann elegant durch die niedrige Öffnung in der Wand. Als ich mich schließlich aufrichte und sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, blicke ich hinunter in den dunklen Garten des Internats.
„Wow. Das ist wirklich wunderschön", flüstere ich angetan und lasse Sophias Hand los, um vorsichtig bis ganz nach vorne zum Geländer zu gehen. Der kalte Nachtwind weht sanft durch mein Haar und ich bin froh meinen Mantel an zu haben.
„Ich bin sehr gerne hier oben", sagt Sophia leise und tritt neben mich an die Brüstung. Ihre Augen schweifen gedankenverloren über den grünen Rasen und die weißen Bänke, bis hinüber zu der dunklen Kapelle mit dem großen Kreuz auf dem Dach, die einsam am schwarzen Waldrand steht.
„Und du frierst nicht?", frage ich besorgt und mustere Sophia ausgiebig, die für diese Temperaturen eindeutig zu dünn angezogen ist.
„Geister frieren nicht", entgegnet sie nur schmunzelnd und hält mir auffordernd ihre Hand entgegen, „siehst du?"
Als ihre Finger behutsam meinen Handrücken berühren, spüre ich sofort die angenehme Wärme, die von ihnen abstrahlt. Denn im Gegensatz zu Sophia sind meine Hände bereits empfindlich kalt geworden.
Das bemerkt auch die junge Frau neben mir und nimmt besorgt meine Finger in ihre warmen Hände.
„Ist es zu kalt?", fragt sie mitfühlend, doch ich schüttle nur schnell den Kopf, denn ich will noch nicht zurück ins Internat gehen.
„Es geht schon, du kannst mich ja ein bisschen wärmen", antworte ich lächelnd und wende mich dann wieder der wunderschönen Aussicht zu. Der Mond steht hoch am Himmel und beleuchtet die weiten Ländereien unter uns ausreichend hell. Ich meine sogar den See im Schutze der Bäume glitzern zu sehen.
„Im Sommer bin ich fast jede Nacht hier oben", verrät mir Sophia während sie behutsam meine Hände in ihren hält.
„Musst du denn nicht schlafen?", frage ich überrascht und die junge Frau schmunzelt nur.
„Ich kann, aber ich muss nicht. Und wenn ist auch mehr eine Art Halbschlaf, in dem ich meine Umgebung immer noch wahrnehme, als ein tiefer, erholsamer Schlaf. Aber ich werde nicht müde, falls du das meinst", erwidert sie ruhig und lächelt mich an „andererseits, wenn ich nicht schlafe habe ich für meinen Geschmack zu viel Zeit zur Verfügung."
Ich runzle verwirrt die Stirn und lege den Kopf schief.
„Wie meinst du das? Ist es nicht schön so viel Zeit zur freien Verfügung zu haben?"
Sophia zögert eine Weile. Sie sieht hinab auf unsere verbundenen Hände und streicht mit dem Daumen sanft über meinen Handrücken. Eine Gänsehaut überläuft meinen Körper.
„Weißt du...wenn man so lange wie ich schon existiert und dabei Tag und Nacht wach ist, beginnt man irgendwann alles zu durchdenken und zu hinterfragen. Die Gedanken spielen verrückt und man dreht langsam aber sicher durch. Warum glaubst du gibt es Geister, die den Menschen als furchtbare Schreckgestalten erscheinen?"
Mit großen Augen sehe ich Sophia an und sie erwidert meinen Blick, nun plötzlich ernst geworden.
„Poltergeister sind also verrückt gewordene Geister?", frage ich ungläubig und Sophia nickt betrübt.
„So in der Art. Manchmal hat es auch noch andere Gründe. Aber Fakt ist, dass sie so durcheinander sind, dass sie sogar ihrer eigene Existenz nicht mehr verstehen. Solche Gespenster sind bedauernswerte, verlorene Kreaturen, die nur noch darauf warten, dass ihre Zeit abläuft."
„Warte, warte, einen Moment!", unterbreche ich Sophia verwirrt, „willst du damit sagen, dass auch ihr Geister gewissermaßen... sterben könnt?"
Sophia nickt knapp und zuckt dann mit den Schultern.
„Nichts lebt ewig. Auch Geister und Gespenster nicht. Aber genau wie bei unserem Leben als Menschen, wissen auch wir nicht, wann unsere Zeit endgültig abgelaufen ist. Es gibt Geister die bereits seit über tausend Jahren existieren, andere bleiben in dieser Form nur wenige Jahre", sagt Sophia sachlich, doch mich machen ihre Worte mit einem mal sehr nachdenklich. Denn unterbewusst war ich bis jetzt davon ausgegangen, dass Sophia noch ewig existieren würde. Dabei könnte sie jeden einzelnen Tag für immer verschwinden. Genau wie ich. Oder...
Mir kommt mit einem mal ein seltsamer und beängstigender Gedanke.
Muss ich nach meinem Tod vielleicht auch ein Geist werden?!
Als ich Sophia diese Überlegung mitteile, werden ihre Gesichtszüge auf einmal ganz weich.
„Du fürchtest dich davor, oder?", fragt sie einfühlsam und umfasst mit ihrer linken Hand tröstend meinen Unterarm.
„Was? Nein, ich-...vielleicht ein bisschen!", gebe ich widerstrebend zu und ein sanftes Lächeln schleicht sich auf Sophias rote Lippen.
„Ein bisschen sehr, wie mir scheint...", sagt sie leise und steckt mir vorsichtig eine lose Strähne hinter mein Ohr. Ihre grünen Augen beobachten mich dabei mitfühlen.
„Ich-ich würde mich wahrscheinlich nur fürchterlich alleine fühlen", versuche ich mich zu erklären, doch Sophia macht mir in keinster Weise einen Vorwurf.
„Ich halte die Chance für sehr gering, dass du nach deinem Tod zum Geist wirst", beruhigt mich die junge Frau und schenkt mir ein ehrliches Lächeln.
Ich nicke stumm, wir sehen uns noch immer tief in die Augen.
„Warum bist du dann einer geworden?", flüstere ich beinahe, aus Angst Sophia zu nahe zu treten. Doch diese lacht nur leise auf.
„Ich weiß es nicht. Aber ich habe Vermutungen, die erzähle ich dir ein anderes Mal. Jetzt sollten wir langsam wieder hinein gehen. Du zitterst schon."
Und sie hat Recht. Ich hatte es gar nicht bemerkt, doch nun wo Sophia mich darauf aufmerksam macht, spüre auch ich das Zittern meiner Muskeln.
„In Ordnung", sage ich leise und zusammen kehren wir ins Internat zurück. Sophia schließt geräuschlos die Tür hinter uns und dann gehen wir schweigend durch die dunklen Gänge zurück zu meinem Zimmer.
Als wir dort ankommen, sehe ich Sophia noch einmal tief in die Augen, bevor ich sie in eine feste Umarmung ziehe.
„Ich hoffe sehr, dass auf deiner Uhr noch viel Zeit ist", flüstere ich in ihr Ohr und spüre, wie Sophias Hände auf meinem Rücken kaum merklich stärker zugreifen.
„Jetzt könnte ich sie jedenfalls sinnvoll nutzen", flüstert Sophia zurück und löst sich sanft aus meinen Armen.
Sie lächelt noch einmal und dann verschwimmt die Luft vor meinen Augen und die junge Frau ist verschwunden.

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