Flammender Tod

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Ich kann es gar nicht abwarten, bis es endlich 19 Uhr ist. Der Tag heute war schwer. So unendlich schwer.
Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht mehr, wie ich ihn überhaupt überstanden habe. Ich weiß nur, dass ich tief getroffen und unendlich traurig bin.
Es fühlt sich irgendwie so an, als wäre Sophia heute ein zweites Mal gestorben. Denn mit den Umständen um ihren Tod kommt es mir plötzlich so vor, als hätte ich Sophia in der Vergangenheit verloren. Als wäre ihr wahres Selbst vor beinahe zweihundert Jahren vollständig zerstört worden. Und irgendwie stimmt das ja auch.
Ein sanftes Klopfen an der Tür lässt mich zusammen schrecken und ich springe auf, um Sophia herein zu lassen.
„Geht es dir besser?", murmelt Sophia in mein Ohr, als ich die Tür öffne und sie augenblicklich fest in die Arme nehme. Die Tür fällt leise hinter uns ins Schloss und ich atme tief den mir so vertrauten Duft ein.
„Nur ein wenig", gebe ich ehrlich zu und führe Sophia zu meinem Sofa, auf dem wir uns nah beinander nieder lassen. Sofort greife ich nach ihrer warmen Hand und streiche behutsam über die weiche Haut.
„Meine Geschichte hat dich heute morgen ganz schön aufgewühlt, oder?", fragt Sophia sanft und ich nicke zaghaft.
„Ich-", ich stocke. Darf ich so etwas überhaupt aussprechen? Oder verletze ich Sophia damit womöglich?
„Ich stelle es mir so schrecklich vor", beende ich meinen Satz mit brüchiger Stimme und sehe unsicher in Sophias grüne Augen hinauf. Augen die schon so,  so alt sind.
Sophia streicht sich mit der freien Hand nachdenklich durch ihr welliges, braunes Haar, bevor sie mir antwortet.
„Willst du die ganze Geschichte hören?"
Ich schlucke hart. Doch dann nicke ich. Natürlich will ich sie hören, egal wie schwer es wird.
Sophia sieht lange auf unsere verbunden Hände hinunter, dann holt sie tief Luft und beginnt zu erzählen.
„Es war Sommer 1826. Ich war im letzten Jahr meiner Ausbildung auf St. Rednor. Eines Nachts zog ein furchtbares Gewitter auf. Es stürmte und donnerte wie verrückt, so laut dass ich nicht schlafen konnte. Da ich alleine in meinem Zimmer war, stand ich auf und schlich mich in die Bibliothek. Ich wollte mir dort ein Buch ausborgen, so dass ich bei dem fürchterlichen Krach wenigstens etwas zu lesen hatte. Leider hat mich Schwester Elisabeth auf dem Rückweg zu meinem Zimmer erwischt."
Sophias Miene verdüstert sich und eine tiefe Furche bildet sich auf ihrer sonst so glatten Stirn.
„Ist das die Nonne, die dich davor schon einmal in den Zwinger gesperrt hatte?", flüstere ich und Sophia nickt langsam.
„Sie konnte mich nicht ausstehen. Auf jeden Fall hatte sie mich nicht zum ersten Mal nachts beim umherschleichen erwischt und so explodierte sie förmlich vor Zorn. Sie schrie herum, packte mich an den Haaren und schleifte mich hinter sich her in den Garten. Am Vortag hatten wir damit begonnen den Schuppen dort zu sortieren und aufzuräumen. Sie schubste mich hinein und brüllte, ich solle zur Strafe den Schuppen ganz alleine in Ordnung bringen, vorher käme ich hier nicht mehr raus. Dann schlug sie die Tür zu und sperrte ab. Zu diesem Zeit hatte es bereits angefangen zu regnen."
Fassungslos lausche ich Sophias Geschichte und halte fest ihre warme Hand in meiner.
„Was ist dann passiert?"
Meine Frage ist leise, fast nicht zu verstehen.
„Ich schrie sie an, dass sie mich heraus lassen solle, denn das Dach war nicht dicht und ich wäre klitschnass geworden. Doch sie lachte nur und ging. Ich erinnere mich noch, dass ich vor Wut gekocht habe", fährt Sophia fort und ein trauriges Lächeln legt sich auf ihre Lippen, „das Gewitter wurde immer stärker. Aber mir bleib nichts anderes übrig als zu gehorchen. Also machte ich mich wohl oder übel daran, all die schweren Geräte und die Setzlinge in irgendeine Art von Ordnung zu bringen.
Doch ich war noch nicht weit gekommen, da fuhr plötzlich ein greller Lichtblitz auf mich herunter und es tat einen fürchterlichen Donnerschlag. Ich schrie, als ich sah, dass der Dachstuhl in hellen Flammen stand. Trotz des starken Regens. Er konnte die Flammen nicht löschen."
Eine einzelne Träne rinnt mir über die Wange, als ich Sophia bestürzt lausche, nicht fähig etwas zu erwidern.
„Ich bekam Panik und warf mich gegen die Tür, versuchte sie irgendwie aufzubrechen, doch die Flammen breiteten sich schneller aus, als ich es für möglich hielt. Die trockenen Pflanzenteile und dünnen Äste auf dem Boden fingen sofort Feuer und der Rauch brannte in meinen Augen und in meiner Lunge. Ich hielt mir meinen Ärmel vor den Mund und versuchte so um Hilfe zu schreien, doch in dem tobenden Unwetter hörte mich natürlich niemand. Zu meinem Unglück, lies der Wind das Feuer nur noch heftiger lodern und treib den Rauch zwischen den Ritzen der Bretterwand nach draußen. Sonst wäre ich vielleicht an einer Rauchvergiftung gestorben."
Sophia macht eine Pause und sieht mich mit düsterer Miene an.
„Soll ich aufhören?"
Ich schüttle nur den Kopf. Wenn sie es ertragen konnte diesen Tod zu sterben, dann werde ich es wohl ertragen mir ihre Schilderungen anzuhören, egal wie explizit sie auch sind.
„Ich erinnere mich, dass bald der ganze Boden in Flammen stand. Ich versuchte mich auf einem Pferdekarren in Sicherheit zu bringen, aber meine Kleidung hatte bereits Feuer gefangen und brannte Sekunden später lichterloh an meinem Körper."
Sophias hübsches Gesicht durchzieht ein tiefer Schmerz, als könnte sie noch immer die heißen Flammen auf ihrer Haut spüren.
Ich bin wie erstarrt. Zu entsetzt, darüber was sie mir berichtet. Was sie erleben musste. Ertragen musste. Es ist grausam. Furchtbar. Schrecklich.
„Wie fühlt es sich an?", wage ich mit erstickter Stimme zu Fragen. Die Tränen fließen nun ungehemmt.
„Zu verbrennen?", fragt Sophia und erschaudert bei der Erinnerung.
„Im ersten Moment als würde man dich mit flüssiger Lava überkippen. Aber wenn das Feuer deine Haut durchbrochen und deine Nerven erst einmal zerstört hat, spürst du fast nichts mehr. Es sind die weniger schweren Verbrennungen, die dich wie am Spieß schreien, dich auf dem Boden wälzen und wünschen lassen, du wärst doch endlich tot."
Tränen stehen nun auch in Sophias tieftraurigen und schmerzverzerrten Augen und ich hebe eine zitternde Hand um sie an ihre Wange zu legen. Zärtlich streiche ich mit meinem Daumen über ihre warme Haut.
„Ich brannte so lange, bis ich vor Schmerzen halb wahnsinnig und beinahe jeder Zentimeter meines Körpers aus rohem, stinkenden Fleisch bestand. Meine Haare waren versengt, meine Kleidung ein Haufen Asche. Noch heute ertrage ich kaum den Geruch nach Verbranntem. Alles was ich noch wollte, war sterben. Um mich herum loderten nur noch helle, heiße Flammen, die nach meinem Fleisch lechzten. Und dann hatte das Schicksal endlich Mitleid mit mir. Das letzte, an was ich mich aus meinem menschlichen Leben erinnere, ist das ächzende Geräusch des Dachstuhls und das Bild, als er brennend auf mich herab stürzte."
Sophia endet.
Ihre grünen Augen haben einen unergründlichen Ausdruck angenommen und blicken weit in die Ferne. Ich aber kann sie nur fassungslos ansehen.
Ich bin geschockt. Entsetzt. Tieftraurig. Alles zugleich.
„Was du erleiden musstest, Sophia, ist unvorstellbar", sage ich schließlich mit bebender Stimme, „ich wünschte, ich hätte dir etwas von deinem unsagbaren Schmerz nehmen können."
Sophias Blick fällt zurück auf mich und sie lächelt mich sanft an.
„Das hast du bereits getan, Mary. Indem du mir zuhörst. Indem du um mich trauerst. Du linderst den Schmerz in meinem Herzen und in meiner Seele."
Eine Weile ist es still zwischen uns. Und ich wage es nicht die Stille zu unterbrechen. Doch ich habe noch so viele Fragen, die ich trotz aller Trauer stellen möchte.
„Wem hast du diese Geschichte bisher schon erzählt?"
Sophia spielt mit meinen Fingern in ihren. Dann sagt sie: „So wie ich sie dir erzählt habe, noch niemandem."
Ich nicke stumm. Es ist eine große Ehre, dass sie ausgerechnet mir so vertraut. Und ich weiß das.
„Ich danke dir für deine Offenheit und dein Vertrauen. Ich kann nur erahnen, wie schwer es für dich gewesen sein muss, mir deine Geschichte zu erzählen", sage ich tief berührt. Sophia nickt nur schweigend.
„Haderst du mit deinem Schicksal?", frage ich leise.
„Nicht mehr. Ich bedaure nur, dass ich mich nicht von meinem Vater und meinen Freunden verabschieden konnte", sagt Sophia mit einem traurigen Lächeln. Dann bricht ihre Stimme.
„Jedes Mal, wenn einer von ihnen in den folgenden Jahren gestorben ist, ist auch in mir ein Teil erloschen."
Bei ihren Worten zieht es auch schmerzhaft in meinem Herzen.
„Warum hast du dich ihnen nicht als Geist gezeigt? So wie mir?", flüstere ich sanft.
Als Sophia aufsieht, stehen Tränen in ihren grünen Augen.
„Ich hatte Angst", gesteht sie mir, „Angst vor mir selbst, Angst vor ihren Reaktionen, Angst sie in ihrer Trauer zu stören. Ich hielt es für das Beste, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Schon bald nach meinem Tod kam kaum noch jemand von ihnen nach St. Rednor. Es war ein schmerzvoller Ort für sie geworden...Und als schließlich alle gestorben waren, wurde ich einsamer denn je. Heute bereue ich meine Entscheidung von damals. Ich sehe ja, wie schön es mit dir sein kann."
Ein trauriges Lächeln ziert Sophias volle Lippen und es bricht mir endgültig das Herz.
„Du bist so ein wunderbarer Mensch, Sophia. Und so stark. Viel stärker als du vielleicht selbst glaubst. Ich bewundere dich dafür", sage ich zärtlich und lege eine Hand auf Sophias Oberschenkel. Die junge Frau schmunzelt.
„Ich fühle mich jedenfalls stärker, seit ich dich kenne", gibt sie ehrlich zu und blickt mich intensiv an, „in all den Jahrhunderten habe ich niemanden getroffen, der so ist wie du. Und es fasziniert mich."
Trotz der Traurigkeit des Augenblicks lächeln Sophia und ich uns warm an. Doch dann kommt mir ein anderer Gedanke.
„Was wurde aus Schwester Elisabeth? Hat man sie bestraft? Wäre sie nicht gewesen-... sie hat dich eingeschlossen! Und sie hat die Tür nicht einmal geöffnet, als der Schuppen brannte und du um Hilfe schriest! Sie...sie hat dich doch umgebracht", flüstere ich bewegt und umfasse nun auch Sophias andere Hand mit meiner. Die junge Frau legt nachdenklich den Kopf schief.
„Ich möchte glauben, dass sie in einer Schockstarre war. Aber nein, sie wurde nie dafür bestraft. Denn sie hat nie jemandem erzählt, was wirklich in jener Nacht geschah. Meines Wissens ist sie ein paar Jahre nach meinem Tod ebenfalls verstorben. Aber in dieser Nacht hat sie ihren persönlichen Teufel verbrannt."
Sophias Lippen bilden eine dünne Linie. Ihre Augen werden hart.
„Wie meinst du das?", frage ich vorsichtig nach.
Sophia zögert.
„Ich bin mir nicht sicher. Aber ich glaube Schwester Elisabeth hatte sonderbare Gefühle für mich entwickelt. Ich habe lange nach meinem Tod darüber nachgedacht aber mittlerweile bin ich mir fast sicher. Sie hat sich in dieser Nacht von ihren eigenen Ketten befreit."
Ich schüttle nur sprachlos den Kopf.
„Und wenn sie diese Gefühle zerrissen hätten! Sie hätte sie ertragen müssen. Um deinetwillen!", sage ich entsetzt. Sophia lächelt leicht.
„Du hättest es getan, oder?"
Ihre Frage überrascht mich, doch ich beantworte sie wahrheitsgemäß.
„Natürlich. Selbst wenn ich dich über alles geliebt hätte und vor Sehnsucht fast verrückt geworden wäre, hätte ich stets nur dein bestes gewollt! Egal wie sehr es mich geschmerzt hätte."
Daraufhin hebt Sophia unsere verschränkten Finger an ihre Lippen und küsst sanft meine Hand in ihrer.
„Und darum mag ich dich so sehr, Mary. Du hättest mich beschützt. Aber die Zeit hat uns nun einmal erbarmungslos voneinander getrennt."
Damit lässt mich Sophia los und steht leise auf.
„Wo willst du hin?", frage ich sofort und stehe ebenfalls auf.
„Dich in Ruhe schlafen lassen", antwortet Sophia sanft und nickt auf die Uhr an der Wand. Es ist bereits kurz vor 22 Uhr.
„Bitte geh nicht!"
Ich habe die Worte ausgesprochen, bevor ich sie zurückhalten kann.
„Ich habe kein gutes Gefühl dich jetzt so alleine zu lassen", sage ich bittend und lege eine Hand um Sophias Hüfte. Die Wärme ihres Körpers ist allgegenwärtig unter meinen Fingerspitzen.
„Was soll ich schon groß anstellen. Mich vom Dach stürzen?", neckt mich Sophia sanft, doch ich rolle nur mit den Augen.
„Ich komme schon klar, Mary. Danke, dass du mir zugehört hast."
Noch einmal zieht Sophia mich in eine enge Umarmung, bevor sie sich vorsichtig daraus löst und mit einem Augenzwinkern durch die geschlossene Wand verschwindet.

1826Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt