Eine durchwachte Nacht

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Ich halte Sophia fest in den Armen. Lange. Keiner von uns spricht ein Wort. Aber ich muss es nicht aus Sophias Mund hören, um zu wissen, dass sie etwas beschäftigt. Ich fühle es. An der Art wie sie mich festhält. An der Art wie sich ihr Körper immer mehr anspannt. Und an der Art wie ihr Atem stetig unruhiger wird.
„Was ist los?", flüstere ich sanft und streife mit meiner linken Hand vorsichtig den Kragen ihrer Bluse ein Stück nach unten, sodass ich Sophia einen zärtlichen Kuss auf ihre nackte, warme Schulter geben kann. Ich spüre, wie die junge Frau in meinen Armen erschaudert.
„Kannst du es nicht hören?", fragt Sophia mit belegter Stimme und löst sich ein Stück von mir, sodass wir uns in die Augen sehen können. Und zum ersten Mal meine ich so etwas wir Furcht in Sophias grünen Augen zu entdecken.
„Ein Sturm zieht auf", flüstert sie bedrückt und beißt sich auf die volle Unterlippe, nur um dann ihren Blick zu senken, „ich spüre ihn schon seit heute morgen."
Ich brauche ein paar Sekunden, um zu verstehen, was Sophia damit meint, doch dann begreife ich. Und es macht sich ein beklommenes Gefühl in meinem Herzen breit.
„Ist es der Blitz oder der Donner?", frage ich mitfühlend und umfasse sanft Sophias Kinn, sodass sie mir wieder in die Augen sehen muss. Ihre tragen nun einen unruhigen Ausdruck in sich.
„Beides", gibt sie leise zu. Und wie um ihre Worte zu unterstreichen, höre ich in der Ferne plötzlich das leise Donnergrollen eines heraufziehenden Gewitters.
Ich spüre wie Sophia in meinen Armen zusammenzuckt und sehe, wie ihre Augen nervös durch den Raum gleiten. Ganz als suchten sie eine Möglichkeit sich zu verstecken. Oder zu fliehen.
„Wie hast du es all die Jahrzehnte nur ausgehalten?", flüstere ich besorgt und bekomme so wieder für ein paar Sekunden Sophias Aufmerksamkeit. Sanft lege ich beide Hände an ihre Wangen und streiche zart über die mir inzwischen so vertrauten Konturen. Sophia seufzt tief.
„Ich...ich weiß es nicht. Normalerweise ziehe ich mich tief in den Keller zurück. Dort ist der Donner nicht so laut und ich muss den hellen Lichtblitz nicht sehen. Trotzdem ist es beinahe unerträglich."
Die Vorstellung, wie Sophia sich Jahr für Jahr im tiefsten Keller von St. Rednor zu einer winzigen Kugel zusammenkauert und zitternd nur darauf wartet, dass das Gewitter endlich weiterzieht, tut mir im Herzen weh. Denn ich weiß, dass es so gewesen ist. Ich sehe es in Sophias furchterfüllten Augen.
„Deswegen bist du hier herunter gekommen", sage ich leise und lasse meine Hände liebevoll von Sophias Wangen hinab auf ihre Schultern gleiten.
„Ich wollte eigentlich hinunter zum Zwinger. Auch wenn es ein schrecklicher Ort ist, es ist der einzige Platz auf St. Rednor, an dem ich mich wenigstens ein bisschen geschützt fühle. Es klingt lächerlich, ich weiß", sagt Sophia und lässt für einen Moment den Kopf sinken. Dann straffen sich ihre Schultern wieder und ein kleines, entschuldigendes Lächeln erscheint auf ihren vollen, roten Lippen, „ich bin ein Geist und fürchte mich dennoch vor einem Gewitter, das mir überhaupt nichts mehr anhaben kann."
Schnell schüttle ich den Kopf und sehe Sophia tief und ernst an. Ein weiterer Donner lässt sie unter meiner Berührung zusammenzucken. Das Grollen ist jetzt lauter. Der Sturm kommt immer näher.
„Dafür musst du dich nicht schämen, Sophia", sage ich zärtlich, „du bist durch ein Gewitter gestorben. Und das nicht gerade...auf eine schnelle und schmerzlose Art. Du hast jedes Recht auf dieser Welt Angst vor Stürmen und Gewittern zu haben. Jedes. Auch nach zweihundert Jahren noch. Es tut mir nur leid, dass du so lange alleine da durch musstest."
Daraufhin erscheint ein kleines aber ehrliches Lächeln auf Sophias hübschem Gesicht, trotz der offensichtlichen Furcht, die sie noch immer eisern im Griff hat.
„Bitte geh nicht hinunter zum Zwinger. Bleib hier oben bei mir", flüstere ich flehend und lege bittend beide Hände auf Sophias Brust, knapp über ihrem Herzen. Sophia zögert.
„Bitte. Wir können uns hier auf das Sofa setzen und ich halte dich die ganze Nacht in meinen Armen. Solange bis es dir besser geht. Nur bitte geh nicht zu diesem scheußlichen Ort in diesen tropfenden, stockdunklen Keller!"
Nun wird Sophias Blick weich.
„Du musst schlafen, Mary. Und ich würde dich nur die ganze Nacht wach halten. Ich schaffe das schon. Habe ich jedes Mal. Geh hoch und versuch nicht an mich zu denken", sagt sie sanft und macht einen kleinen Schritt zurück. Doch ich schüttle sofort vehement den Kopf und umfasse mit beiden Händen das Revers ihrer Bluse, ganz als könnte Sophia plötzlich vor meinen Augen verschwinden. Und leider könnte sie das tatsächlich.
„Glaubst du ernsthaft ich würde auch nur ein Auge zu tun, wenn ich dich alleine hier unten zurück ließe?! So wie es dir gerade geht? Schick mich nicht weg, Sophia! Lass mich bei dir bleiben und dir helfen. Bitte!", erwidere ich nachdrücklich und blicke die junge Frau mit den tiefen, grünen Augen flehentlich an. Denn ich weiß, dass ich mich Sophias Entscheidung nicht widersetzen kann. Und darum hoffe ich inständig, dass sie mir genug vertraut, um meine Hilfe anzunehmen.
Ein weiterer Donner grollt laut und bedrohlich und ich spüre, wie Sophia leicht zu zittern beginnt. Sie presst die Lippen aufeinander und ihre Hände ballen sich zu Fäusten.
„Komm her", flüstere ich liebevoll und nehme Sophia fest in die Arme, die sogleich ihr hübsches Gesicht an meinem Hals versteckt, „konzentriere dich ganz auf mich. Auf meinen Herzschlag. Auf meinen Atem. Spürst du die Berührung meiner Hände?"
Sanft zeichnen meine Finger verschlungen Muster und Formen auf Sophias warmen Rücken, während ich gleichmäßig ein und ausatme, damit meine Herzschlag ruhig und regelmäßig bleibt.
Ich kann fühlen, wie Sophia langsam ihre zu Fäusten geballten Hände löst und mich nun ihrerseits fest in die Arme schließt. Das Zittern ihres Körpers aber verschwindet nicht.
„Lass uns dort hinüber zur Couch gehen", sage ich leise, Sophia nickt nur stumm. Doch wir haben das rote Sofa kaum erreicht, da erhellt ein greller Lichtblitz den Treppenaufgang und fast augenblicklich schallt ein ohrenbetäubender Donnerschlag durch ganz St. Rednor.
Sophia zuckt heftig in meinen Armen zusammen und ein gequältes Stöhnen entkommt ihren aufeinander gepressten Lippen. Sofort ziehe ich sie noch näher an mich heran und als ich den Kopf drehe, um in Sophias grüne Augen zu sehen, bemerke ich, dass nun Tränen darin schimmern.
„Lass es zu. Es ist in Ordnung zu weinen", flüstere ich sanft und liebkose mit meinen Lippen zärtlich Sophias weiche Wange, während ich sie weiterhin fest im Arm halte. Aber ich spüre keine einzige Träne auf ihrer warmen Haut.
„In Momenten wie diesen...", setzt die junge Frau in meinen Armen mit zitternder Stimme an, „...kann-...kann ich das Feuer wieder auf meinem Körper spüren. Es ist ein so furchtbares Gefühl."
Ich beiße mir stumm auf die Lippe, während ein neuer Blitz den Raum für einen Sekundenbruchteil erhellt und der Donner danach wütend von den steinernen Wänden widerhallt. Mittlerweile hat es angefangen zu regnen und ein stürmischer Wind pfeift rund um das dunkle Internat.
„Sag mir, ob es dir hilft, wenn ich..."
Ich beende meinen Satz nicht sondern beginne stattdessen vorsichtig mit meinen Fingerspitzen über Sophias unbedeckte Unterarme zu streichen, hoffe ihr so das Gefühl des brennenden Feuers auf ihrer Haut nehmen zu können.
Eine ganze Weile fahren meine Finger auf diese Weise unermüdlich auf und ab, bis ich spüre, dass Sophia mich ansieht. Auch ich drehe den Kopf in ihre Richtung.
„Woher weißt du nur immer, wie du mir helfen kannst?", flüstert Sophia mit leiser Stimme und ihre tiefgrünen Augen blicken mich unergründlich an.
Ich schlucke einmal schwer.
„Vielleicht, weil du mir so viel bedeutest?", flüstere ich zurück und streiche mit meinem Zeigefinger zart eine von Sophias dunkelbraunen Haarsträhnen aus ihrem hübschen Gesicht.
Wieder blitzt es. Aber diesmal zuckt Sophia kaum noch zusammen. Und als der Donner in unseren Ohren erklingt, lege ich eine Hand an ihre Wange und dränge zärtlich meine Lippen gegen ihre.
Eine Gänsehaut überläuft meinen gesamten Körper, als Sophia meinen gefühlvollen Kuss erwidert.
Ein Kuss der so viele unausgesprochene Gefühle in sich trägt.
Sehnsucht. Vertrautheit. Tiefe Zuneigung. Aber auch Angst. Schmerz. Und Furcht.
Trotzdem kann ich nicht genug von der zärtlichen Berührung bekommen. Und ich ziehe Sophia noch näher an mich heran, sofern das überhaupt möglich ist.
Um uns herum tobt das Gewitter jetzt stärker denn je, doch weder die junge Frau in meinen Armen noch ich schenken ihm großartige Beachtung. Auch wenn ich noch immer das leichte Zittern spüren kann, das weiterhin von ihr ausgeht.
„Wie soll ich nur den Sommer überstehen, wenn du in den Ferien nachhause fährst?", flüstert Sophia seufzend, als sie sich sanft von mir löst, um sich etwas aufrechter hinzusetzen. Ich mache nur große Augen.
„Darf ich über die Sommerferien nicht hier auf St. Rednor bleiben?"
Ich habe mir bis gerade eben zwar noch nicht wirklich Gedanken um diese Thematik gemacht, aber je mehr ich jetzt darüber nachdenke, desto unmöglicher scheint es mir Sophia für ganze sechs Wochen verlassen müssen.
Und wenn ich mich dafür selbst in den Zwinger sperren müsste!
Nun ist es an Sophia überrascht zu reagieren.
„Möchtest du das denn? Was ist mit deiner Familie?"
Doch ich lächle nur warm.
„Sie würden mich bestimmt gerne auf St. Rednor besuchen kommen. Und ich kann nach Ashford nicht einmal mehr den Gedanken daran ertragen, für längere Zeit von dir getrennt zu sein. Nicht schon wieder", sage ich ernst und nehme sanft Sophias Kinn zwischen meine Finger.
„Außerdem werden wir das Internat fast für uns alleine haben, oder?"
Der Donner grummelt hoch über uns, als Sophia den Kopf schief legt und mich mit dem Hauch eines kleinen Lächelns mustert. Die Tränen sind mittlerweile aus ihren Augen verschwunden.
„So gut wie. Nur wenige Lehrkräfte und keines der Mädchen dürfen im Sommer auf St. Rednor bleiben. Wir hätten also...viel gemeinsame Zeit."
Den letzten Satz sagt Sophia äußerst bedächtig und ich weiß, dass es eine unausgesprochene Frage ist. Eine Frage, deren Antwort ich bereits zweifelsfrei kenne.
„Ich hoffe doch, das dem so sein wird."
Wie lächeln uns warm an, und in meiner Brust macht sich erneut diese neue, wohlige Gefühl breit. Ein Gefühl, das ich in letzter Zeit jedes Mal in Sophias Anwesenheit spüre.
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Es dauert noch einige Stunden, bevor das Gewitter endlich weit genug entfernt ist, sodass nicht einmal mehr ein leises Donnergrummeln zu hören ist.
Während der gesamten Zeit hatte ich Sophia liebevoll in meinen Armen gehalten, sanfte Worte mit ihr getauscht und mir den ein oder anderen Kuss gestohlen.
Und trotz meiner wachsenden Müdigkeit, möchte ich keinen einzigen Moment davon missen. Ich würde es sofort wieder tun, wenn ich Sophias Schmerz und Angst dadurch lindern kann. Und wenn ich die ganze Nacht hier sitzen müsste.
„Ich denke der Sturm ist jetzt vorüber", sagt die junge Frau in meinen Armen nach einer Weile des einträchtigen Schweigens und ich nicke zustimmend. In stiller Übereinkunft erheben wir uns von der roten Couch und ich strecke meine starren Glieder.
„Ich weiß nicht, wie ich dir für deinen Beistand danken soll, Mary. Ohne dich...", beginnt Sophia leise, doch sie beendet ihren Satz nicht. Stattdessen sieht sie nur kopfschüttelnd auf den Boden und nimmt dann vorsichtig meine Hand in ihre. Ich verschränke sofort unsere Finger miteinander.
„Das ist nichts, wofür du mir danken musst, Sophia", beruhige ich sie sanft und lächle warm, „und ich werde beim nächsten Sturm wieder an deiner Seite sein. Tag und Nacht."
Kurz sieht mich Sophia noch aus ernsten Augen abschätzend an, doch dann verschwindet der Zweifel aus ihrem Blick und mir bleibt gerade noch Zeit, die Augen zu schließen, bevor Sophias weiche Lippen meine gefangen nehmen. Mein bis eben noch so ruhig schlagendes Herz, macht einen aufgeregten Satz und pocht danach doppelt so schnell weiter. Ich kann einfach nicht genug von Sophias zarter Berührung bekommen...
„Zeit schlafen zu gehen", sagt die junge Frau nach einer Weile leise und löst sich sanft von mir. Ihr grünen Augen blicken mich warm an.
„Du siehst sehr müde aus."
„Ich bin auch müde", gebe ich ebenso leise zu, „aber du bist es mir wert."
„Womit habe ich dich nur verdient", murmelt Sophia mehr zu sich selbst als zu mir, doch ich schmunzle nur und drücke zart ihre Hand in meiner, als wir uns zum gehen wenden.
„Sagst du mir das nächste Mal sofort Bescheid, wenn wieder ein Gewitter aufzieht? Ich möchte dir von Anfang an beistehen", frage ich flüsternd, als wir kurz darauf den dunklen Keller verlassen und die vielen Treppen bis zum Erdgeschoss von St. Rednor hinaufsteigen.
Sophia zögert kurz, dann nickt sie.
„Das werde ich tun."
Stillschweigend durchqueren wir das tief schlafende Internat, einzig der Regen prasselt weiterhin unermüdlich von außen gegen die schwarzen Scheiben.
Vor meiner Tür angekommen, küsst mich Sophia einmal zärtlich auf die Wange.
„Danke, Mary. Für alles, was du heute Nacht für mich getan hast. Ich werde es dir nicht vergessen."
„Jederzeit wieder", entgegne ich sanft und drücke kurz Sophias warme Hand in meiner, „versprochen?"
Diesmal zögert die junge Frau nicht.
„Versprochen. Schlaf gut, Mary."
„Gute Nacht, Sophia."
Und damit löst sich Sophia vor meinen müden Augen in Luft auf.

1826Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt