Eine tiefe Ehrlichkeit

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Mit Sophia die Nachtwache zu machen ist wirklich alles andere als langweilig. Wir unterhalten uns wie immer gut und die junge Frau kann mir sogar den ein oder anderen Tipp geben, wo sich eventuell noch Mädchen verstecken könnten. Doch zu meiner Beruhigung scheinen alle Schülerinnen heute brav und anständig zu sein. Nun ja. Alle bis auf eine.
Es ist kurz nach 22:00 Uhr, als Sophia und ich die große Eingangshalle betreten. Daran, dass Sophia sich auffällig zurückfallen lässt und mir einen bedeutenden Blick zuwirft, weiß ich schon bevor ich um die Ecke biege, dass in der Halle noch ein paar Mädchen sein müssen.
Was ich dann allerdings erblicke, macht mich einigermaßen stutzig.
Mit verschränkten Armen und einem lässigen Lächeln auf den Lippen lehnt Tessa neben dem Speisesaal an der Wand und blickt mir erwartungsvoll entgegen. Stirnrunzelnd gehe ich auf sie zu.
„Jetzt aber schnell. Es ist schon 22:07 Uhr!", sage ich mahnend und gebe Tessa mit einem auffordernden Kopfnicken zusätzlich zu verstehen, dass sie jetzt besser auf ihr Zimmer geht.
Das selbstbewusste Mädchen aber rührt sich nicht einen einzigen Zentimeter.
„Ach kommen Sie schon, Miss Davis. Es sind doch nur ein paar Minuten. Außerdem wollte ich mit Ihnen reden."
Überrascht ziehe ich eine Augenbraue nach oben und verschränke die Arme vor der Brust.
Na das ist ja interessant...
„Was gibt's denn?", frage ich kurz angebunden, doch das scheint für Tessa schon zu genügen. Ihr Lächeln wird noch eine Spur breiter und selbstgefälliger.
Mit einer flüssigen Bewegung, zieht sie sich die Kapuze ihrer weiten, schwarzen Kapuzenjacke vom Kopf, die ihre ansonsten sehr schlanke Figur gut verdeckt.
Unvermittelt muss ich an Sophia denken, und wie athletisch sie oft in ihren modernen Klamotten aussieht.
Ich verdränge diese Gedanken aber so schnell wie möglich.
„Ich habe Sie die ganze Woche kaum gesehen, das fand' ich wirklich sehr schade", beginnt Tessa mit trauriger Miene und ich muss mich wirklich beherrschen, um nicht mit den Augen zu rollen.
„Das war keine Frage, Tessa", erwidere ich leicht genervt von ihrem nur allzu offensichtlichen Flirt und klopfe mit meinen Fingern ungeduldig auf meinen Oberarm.
„Okay, okay. Ich habe heute mit Mrs. Scott geredet, weil ich Nachhilfe in Geschichte brauche. Meine letzte Klassenarbeit war nicht gut. Und Mrs. Scott meinte, dass Sie mir Nachhilfe geben sollten!...Wenn Sie das wollen. Aber Sie haben bestimmt nichts dagegen, oder Miss Davis?", sprudelt es aus Tessa heraus, während mir vor Schreck beinahe das Herz stehen bleibt.
Ach du meine Güte. Das überlebe ich nicht!
„Moment, mal! Davon weiß ich aber noch gar nichts?!", sage ich schnell und hoffe inständig, dass es sich hierbei nur wieder um einen von Tessas dummen Tricks handelt, um mir näher zu kommen.
„Der Direx meinte, ich müsse erst Sie fragen! Auch wenn ich schon wusste, dass Sie bestimmt 'Ja' sagen."
Tessa wirft mir ein keckes Lächeln zu und fährt sich mit der Hand einmal durch ihr kurzes, schwarzes Haar.
In mir windet sich alles.
„Also erstens habe ich noch nicht 'Ja' gesagt und zweitens gibt es bestimmt noch viel erfahrenere Kolleginnen, die dir Nachhilfe geben können", versuche ich mich zu retten, aber natürlich hat das selbstbewusste Mädchen auch hierfür eine passende Ausrede parat.
„Nee, die haben alle schon Nachhilfeschülerinnen. Außerdem will ich nur zu Ihnen!"
Wieder dieses selbstgefällige Lächeln und das lässige Augenzwinkern.
Und ich ahne das Schlimmste.
„Ich halte es für keine gute Idee, Tessa. Du könntest dich wohl kaum auf den Stoff konzentrieren!"
Es ist riskant aber ich muss jetzt aufs Ganze gehen.
Denn eine Sache ist klar:
Wenn Tessa bei mir Nachhilfe hat, wird sie mich pausenlos angraben. Und das ist mehr als nur unangenehm!
„Wer könnte es mir verübeln? Aber mal im Ernst, ich werde mich wirklich benehmen, versprochen!", bettelt Tessa beinahe und ich sehe mich mittlerweile mit dem Rücken zur Wand stehen.
Wie zur Hölle komme ich aus dieser Nummer wieder raus?!
„Sag ihr, du rufst ihren Vater an. Wenn sie dich nicht in Frieden lässt."
Ich zucke ein wenig zusammen, als ich plötzlich Sofias sanfte Stimme ganz leise neben meinem linken Ohr höre. Aber gleichzeitig bin ich auch sehr froh, dass sie gerade bei mir ist und mir aus der Klemme hilft.
„Ich werde es mir überlegen. Aber ich sage dir eins, Tessa: Wenn du dann auch nur ein einziges Mal versuchst mit mir zu flirten, rufe ich deinen Vater an. Ist das klar?"
Zufrieden beobachte ich wie das Gesicht der sonst so frechen Schülerin erschrocken und blass wird. Sophia neben mir kichert leise.
„Ja...ok. Klar!"
Kaum haben diese Worte ihren Mund verlassen, drückt sich Tessa von der Wand ab und verschwindet blitzschnell in Richtung ihres Zimmers. Etwas verwundert blicke ich ihr nach.
„Was war das denn jetzt?", frage ich skeptisch und wende mich Sophia zu, die mit verschränkten Armen und nun sichtbar neben mir steht.
„Tessas Vater verabscheut alles was mit Homosexualität zu tun hat. Er hat keine Ahnung, dass seine Tochter hier auf St. Rednor wie die Made im Speck lebt aber du glaubst nicht was passieren würde, wenn er es rausfindet...", gibt mir Sophia bereitwillig Auskunft und wirft mir einen schulterzuckenden Blick zu. Ihre grünen Augen sind gleichgültig, doch in mir kommt plötzlich so etwas wie Schuldbewusstsein hoch.
„Oh. Dann habe ich ihr gerade wohl mehr Angst eingejagt, als ich eigentlich wollte..."
Daraufhin schleicht sich ein kleines Lächeln auf Sophias volle Lippen.
„Sie wird es verkraften, glaub mir. Und es schadet kein bisschen, wenn ihr mal jemand ihre Grenzen aufzeigt."
Ein paar Momente denke ich noch über Sophias Worte nach, doch dann setzte ich tief seufzend meinen nächtlichen Weg fort.
„Das wird eine Katastrophe, Sophia. Wie kann ich Mrs. Scott nur beibringen, dass ich nicht ausgerechnet mit Tessa arbeiten kann..."
Hilfesuchend wende ich mich an meine Begleitung, die nun nachdenklich die Stirn gerunzelt hat.
„Hmm, ich fürchte du wirst in den sauren Apfel beißen müssen. Tessa ist in der Tat nicht besonders gut in Geschichte. Aber wenn es dich beruhigt, könnte ich bei allen Nachhilfestunden mit ihr anwesend sein. Somit wärst du nicht alleine mit dem pubertierenden Mädchen", bietet Sophia mir hilfsbereit an und ich bin mehr als dankbar für ihren Vorschlag.
„Das wäre super. Wirklich! Vielen Dank!"
„Keine Ursache, Mary."
Sophia lächelt und zwinkert mir einmal aufmunternd zu. Doch im Gegensatz zu Tessa vorhin wirkt es weder aufgesetzt noch frech. Es ist einfach authentisch und es gibt mir ein warmes Gefühl.
Dann kehrt Ruhe auf St. Rednor ein.
Kein einziges Mädchen ist noch auf den Gängen unterwegs und auch Olivia treffe ich nur selten hier und da.
Wir unterhalten uns ein wenig, aber dann geht jeder wieder seinen Weg und ich bin alleine mit Sophia.
Es ist bereits fünf Minuten vor Mitternacht, als ich mich etwas müde und erschöpft auf eine der Bänke in den weitläufigen Fluren sinken lasse.
„Na? Muss da jemand ins Bett?", neckt mich Sophia sanft und setzt sich geräuschlos neben mich. Ohne zu überlegen rutsche ich zu ihr herüber und lege meinen Kopf auf ihrer starken Schulter ab.
„Ich sollte einfach mehr Sport machen. Meine Ausdauer ist beschämend", antworte ich mit geschlossenen Augen und lege eine Hand auf Sophias Oberschenkel. Der Stoff ihrer Hose fühlt sich angenehm rau an. Und die junge Frau lässt die Berührung ohne weiteres zu.
„Ich glaube es liegt wohl eher an der Uhrzeit. Du bist heute morgen auch früh aufgestanden", versucht mich Sophia aufzumuntern, doch ich winke nur gutmütig ab.
„Nein, ich werde alt. So ist das eben."
Daraufhin lacht meine Begleitung nur leise.
„Was soll ich da erst sagen", flüstert sie sanft und plötzlich spüre ich, wie Sophia vorsichtig einen Arm um mich legt. Ich habe absolut nichts dagegen.
„Am besten nichts", erwidere ich müde und wieder lacht Sophia. Ich allerdings öffne meine Augen wieder und bemühe mich sie auch offen zu halten. Ansonsten laufe ich ernsthaft in Gefahr hier in Sophias Armen einzuschlafen.
„Erzähl mir etwas", flüstere ich in die angenehme Stille hinein und drehe meinen Kopf leicht nach oben, sodass ich in Sophias hübsches Gesicht sehen kann. Ihre grünen Augen mustern mich nachdenklich.
„Was möchtest du denn wissen?"
Da muss ich gar nicht lange überlegen, mir sprudeln schon lange tausende Fragen im Kopf herum.
„Kannst du Essen?"
Sophia grinst.
„Wie man es nimmt. Wenn ich versuche etwas zu essen, löst es sich noch in meinem Mund auf und ist verschwunden", antwortet sie ruhig und streicht mit ihren Fingerspitzen sanft über meinen Oberarm. Es ist ein gutes Gefühl.
„Das klingt...gruselig", gebe ich mit einem kleinen Schaudern zu und Sophia nickt andächtig.
„Es ist aber auch nützlich. Wenn es etwas gibt, was du unwiderruflich vernichtet haben willst, gib mir Bescheid und ich esse es auf. Du wirst nie wieder etwas davon sehen", erklärt die junge Frau neben mir, ein Lächeln umspielt ihre Mundwinkel.
„Na hoffentlich isst du mich nicht versehentlich auf", scherze ich matt und ernte von Sophia dafür einen leichten Knuff.
„Würde mir nie einfallen", gibt sie frech zurück und wir lächeln uns an.
Dann verfallen wir wieder in angenehmes Schweigen. Einzig Sophias sanfte Fingerspitzen auf meinem Arm bilden ein stetige Auf und Abbewegung.
Meine Gedanken kehren unvermittelt zu gestern Abend und der kleinen Kapelle zurück. Und an das beklommene Gefühl in meinem Herzen, als ich Maggies liebevolle Gedanken an Sophia las. Die einzelne Träne auf meiner Wange.
Sophia hat so viel verloren... mehr als es ein Mensch je begreifen könnte.
„Du hast einmal gesagt, du hättest Vermutungen, warum du ein Geist geworden bist", flüstere ich zaghaft in die Dunkelheit hinein. Ich spüre, wie Sophia andächtig nickt.
„Verrätst du sie mir?"
Die junge Frau an meiner Seite schweigt eine Weile, doch dann antwortet sie mir leise mit rauer Stimme.
„Ich denke...ich habe noch etwas zu erledigen. Jedoch ist mir bis heute nicht wirklich klar, was genau das sein soll...es könnte zum
Beispiel etwas sehr persönliches sein, wie einen jahrzehntelangen Streit beilegen", erklärt Sophia nachdenklich und ich sehe sie gespannt an. Sie wirft mir einen kurzen Blick zu.
„Das halte ich bei mir aber für unwahrscheinlich. Nein...es muss etwas anderes sein."
Kurz bin ich noch still, doch dann drängt sich eine andere Frage in mein Bewusstsein und ich spreche sie aus.
„Wenn du es herausgefunden hast- und...es erledigt ist...stirbst du dann?"
Meine letzten Worte sind nur noch ein vages Flüstern. Ein Gefühl der Furcht macht sich in mir breit, als ich beklommen in Sophias tiefe, grüne Augen sehe und auf ihre Antwort warte.
Der Blick der jungen Frau ist ruhig und sanft.
„Ich weiß es nicht, Mary. Ich weiß nicht, wann ich diese Welt für immer verlassen werde."
Ihre Worte sollten mich beruhigen. Aber das tun sie nicht. Ganz im Gegenteil.
„Was mache ich, wenn ich eines morgens aufwache und du bist verschwunden?", wispere ich ernst und setze mich so hin, dass ich Sophia auf der hölzernen Bank direkt zugewandt bin. Meine Hände umfassen schnell ihre, ganz als könnte ich sie so festhalten, wenn sie plötzlich vor meinen Augen verschwinden würde.
Sophias hübsche Gesichtszüge werden weich.
„Dann wirst du dein Leben genauso weiter leben, wie bisher. Nur mit der Gewissheit, dass es auf St. Rednor tatsächlich einmal eine Gespenst gegeben hat", sagt sie sanft, doch in mir zieht es bei ihren Worten schmerzhaft.
„Ich will nicht, dass du gehst", flüstere ich bewegt und streiche mit meinen Daumen sanft über Sophias Handrücken.
Diese Worte kommen tatsächlich aus tiefstem Herzen. Denn trotz der kurzen Zeit zusammen, habe ich Sophia bereits fest in mein Herz geschlossen. Ich möchte sogar so weit gehen und sie als meine Freundin bezeichnen. Eine der wenigen Menschen, an denen mir wirklich etwas liegt.
Der helle Mond vor dem Fenster ist unser einziger Zeuge, als Sophia in der Dunkelheit den Kopf zur Seite legt und mich tief ansieht. Ihre Augen strahlen eine ungewohnte Ernsthaftigkeit aus.
„Mir liegt viel an dir, Mary. Beinahe genauso viel wie an meinem alten Leben. Meinen Freunden. Meiner Familie. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, aber du gibst dem Leben, welches ich führe, wieder ein Ziel. Und ich habe das Gefühl, ich werde dieses Ziel erst in einigen Jahrzehnten erreicht haben."
Ein kleines Lächeln schleicht sich bei ihren letzten Worten auf Sophias Lippen und sie drückt sanft meine Hände in ihren.
„Mir liegt auch viel an dir, Sophia.", gestehe ich im Schutze der schemenhaften Dunkelheit. Und weil ich das Gefühl habe, nun eine absolut ehrliche Antwort zu bekommen, traue ich mich, eine weitere Frage zu stellen.
„Warum hast du so große Angst vor Feuer?"
Dass Sophia sich vor den Flammen fürchtet, ist mir seit dem Zwischenfall in der Kapelle gestern klar geworden. Aber wieso nur?
Ich merke, wie sich die junge Frau vor mir merklich anspannt und warte mit klopfendem Herzen auf ihre Antwort. Als sie es schließlich tut, klingt Sophias Stimme seltsam gepresst.
„In den kommenden Wochen wirst du zusammen mit deinen Schülerinnen bestimmt einmal das Heimatmuseum von Shrewsbury besuchen. Dort findet sich auch eine Ecke über die Geschichte von St. Rednor. Wenn du es also wirklich wissen willst, erfährst du dort alles wichtige."
Sophia sieht mich nicht an, als sie mir das erzählt. Sanft versuche ich ihren Blick trotzdem aufzufangen.
„Du willst es mir nicht selbst erzählen?"
Ich sehe, wie sich Tränen in Sophias grünen Augen sammeln. Ihre Lippen beben.
„Ich kann nicht...", flüstert sie kaum hörbar. Dann verschwimmt die kühle Luft vor mir und ich sitze alleine in dem dunklen Flur.

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