Spukgeschichten

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Als mich mein Wecker am nächsten Morgen um Punkt 7:00 Uhr aus dem Schlaf reißt, fühle ich mich wie gerädert.
Und gleichzeitig bin ich heilfroh, dass die dunkle Nacht endlich vorbei ist.
Trotzdem erschrecke ich mich furchtbar, als Olivia um 7:15 Uhr sacht an meine Zimmertür klopft und mich zum Frühstück abholt.
„Hast du nicht gut geschlafen?", fragt sie mitfühlend, während wir zusammen durch die kühlen Gänge hinunter zum Speisesaal gehen.
Ich unterdrücke ein Gähnen und wickle mich noch fester in meine Jacke ein.
„Nicht besonders", gebe ich zu und versuche dabei nicht allzu müde zu klingen.
Na, der Tag heute kann ja lustig werden, denke ich und seufze tief.
Das kann so nicht weiter gehen. Noch so eine panische Nacht mache ich nicht mit!
Aber was habe ich für eine Alternative?
Über diese Frage denke ich noch immer nach, als ich wieder in meiner 7. Klasse stehe und Englisch gebe.
Die Mädchen sind so früh am Morgen ähnlich müde wie ich, jedoch glaube ich nicht, dass sie sich die halbe Nacht aus Angst vor einem Gespenst um die Ohren geschlagen haben.
Und dann passiert noch etwas. Vielleicht liegt es an meiner Müdigkeit oder ich bin einfach unachtsam, aber als ich meine Folien schließe, um in der Suchmaschine einen neuen Begriff einzugeben, erscheint dort mein letztes Suchergebnis von gestern Nacht. Und natürlich fällt das auch den Schülern auf.
„Wieso haben Sie 'Gespenster' gesucht?", fragt prompt ein kleines Mädchen mit runder Brille und braunen Zöpfen.
Ich seufze ergeben.
Jetzt ist es auch schon zu spät.
„Weil ich von den Spukgeschichten rund um St. Rednor Wind bekommen habe", weiche ich mehr oder weniger geschickt aus und blicke sofort in zustimmend nickende Gesichter. Einzelne sind auch ein wenig verängstigt.
„Hier spukt es wirklich manchmal! Einmal habe ich nachts wach gelegen und plötzlich waren da Schritte auf dem Gang!", erzählt ein weiteres Mädchen aus der ersten Reihe und ihre Augen sind ganz groß dabei.
„Das könnten auch Kolleginnen gewesen sein", wiegle ich ab und werfe einen schnellen Blick auf den Sitzplan. Doch das Mädchen, Linda wie ich glaube, schüttelt vehement den Kopf.
„Nein ganz sicher nicht. Das war das Gespenst!"
Obwohl sich in mir alles zusammenzieht, bleibe ich betont locker und werfe einen prüfenden Blick in die Runde.
„Ihr glaubt also alle, dass es hier spukt, ja?"
Sofort geht ein wildes Durcheinander los, jedes Mädchen ruft etwas dazwischen und sie beginnen heftig miteinander zu diskutieren, bis ich das Chaos mit einem lauten Ruf beende.
„HEY!"
Augenblicklich erstirbt das Geschnatter und ich verschränke die Arme vor der Brust.
„Okay, ich sehe schon. Die einen glauben daran und die anderen nicht. Das ist vielleicht auch besser so", versuche ich die Gemüter zu beruhigen, als sich ein Mädchen aus der letzten Reihe meldet. Sie ist etwas älter als die anderen, vielleicht macht sie das Schuljahr bereits zum zweiten Mal.
„Ja?"
„Diese Spukgeschichten sind absoluter Quatsch. Ich bin mal die ganze Nacht durch das Internat gelaufen ich hab absolut niemanden gesehen", sagt sie selbstbewusst und wieder erhebt sich leises Gemurmel, was ich diesmal im Keim ersticke.
„Na gut, damit ist dieses Thema vorerst beendet. Und das mit dem Herumwandern will ich nicht gehört haben!", erwidere ich mit warnendem Blick zu dem älteren Mädchen, die nur die Augen verdreht, „und jetzt zurück zu Englisch."
—————————
Diesen Nachmittag sitze ich an meinem Esstisch vor meinem Laptop und versuche meinen Unterricht für morgen vorzubereiten, doch immer wieder wandern meine Gedanken zurück zu dem Gespräch mit meinen Schülerinnen und somit auch zurück zu dem vermeintlichen Gespenst.
Und je näher der Abend und damit auch die Nacht rückt, desto unruhiger und nervöser werde ich.
Wird sie einfach so in meinem Zimmer erscheinen? Mich beobachten während ich schlafe?
Soll ich nicht doch lieber nachhause fahren?
Frustriert raufe ich mir die Haare und starre auf meinen Bildschirm hinab. Und da habe ich plötzlich eine Idee.
Besser gesagt, meine Schülerinnen haben mich darauf gebracht.
Mit nervösen Fingern tippe ich 'St. Rednor Spukgeschichten' ein und klicke auf Suchen.
Und tatsächlich. Es gibt mehrere interessante Einträge dazu und ich beginne mit dem ersten. Meine Augen überfliegen eilig die vielen Buchstaben.

„Viele Geschichten und Mythen ranken sich um das 1823 erbaute Internat St. Rednor, aber keine ist wohl so gruselig wie die seines Gespenstes. So soll ein menschenähnlicher Geist in dem Jahrhunderte alten Gemäuer umgehen und die arglosen Internatsschüler bei Nacht heimsuchen. Ein paar ehemalige Schülerinnen berichten sogar davon, einmal mit dem Gespenst gesprochen zu haben. Zudem behaupten sie, es sähe aus, wie die verstorbene Tochter des Erbauers von St. Rednor, Robert Cavender.
Ob es sich dabei allerdings um einen schulinternen Mythos oder aber um eine wahre Begebenheit handelt, wird sich wohl nie endgültig klären lassen."

Ich schlucke einmal heftig, klicke aber trotzdem auf eine weitere Website. Hier sinniert die Autorin ausgiebig darüber, wieso das Gespenst von St. Rednor in der Schule geistert und nicht nur in der kleinen Kapelle oder auf dem Friedhof.
Doch je mehr Artikel und Meinungen ich mir zu diesem Thema durchlese desto beklommener wird mir.
Und langsam bricht auch schon wieder die Dunkelheit herein.
Ich will nicht noch einmal so eine von Angst erfüllte Nacht durchmachen!
Ich bin hier her gekommen um meine Ruhe zu haben und nicht um mich verrückt machen zu lassen!
Ich stehe abrupt auf und schließe den Laptop.
Es gibt nur eine Möglichkeit herauszufinden, ob ich mir gerade umsonst so viele Sorgen mache! Oder ob meine Angst doch berechtigt ist.
Ich muss noch einmal mit ihr reden.
Und zwar am besten sofort!

1826Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt