"Ich habe versprochen dich nie zu belügen und doch muss ich zugeben es getan zu haben." Er blickte auf den Boden und Amelia musste die Tränen unterdrücken. Er öffnete seine strahlend braunen Flügel und liess sie verschwinden. "Das ist meine Gabe. Meine Flügel unsichtbar mache. Doch das ist nur ein Teil davon. Meine Familie. Wir alle sind in einer gewissen Weise Seher. Und Seher werden vielfach ausgenutzt. Amelia, ich kann Farben sehen." Verwirrt runzelt Amelia die Stirn. "Finn, verarsch mich nicht, okay? Ich kann auch Farben sehen. Das Gras ist grün, der Himmel blau. Was soll das?" Amelia verwarf verärgert die Hände. "Nein, versteh mich nicht falsch. Ich kann deine Farben sehen. Die Farben deiner Aura." Wie ein Reh im Scheinwerfer riss sie die Augen auf. "Weil ich die Gabe der Seher habe, kann ich jede Aura eines Engels sehen. Die Mischung der Farben und die Ausbreitung zeigt mir an, wie sich der Engel in diesem Moment fühlt, oder was in ihm vorgeht." Amelia fühlte sich plötzlich nackt, obwohl sie ein Kleid trug. Sie fühlte sich blossgestellt. "Das heisst du kannst Gefühle sehen?" Finn konnte sehen, dass sich Amelia unwohl fühlte, schritt aber nicht ein. Stattdessen nickte er nur. Ungläubig stütze sie ihren Kopf auf die Hand ab und versuchte sich das vorzustellen. Finn hatte also die ganze Zeit, seit sie ihn kannte, ihre Gefühle gesehen, egal was sie sagte. Jede neugierige Frage, wie es ihr gehe, war eine Lüge, denn er wusste es bereits. Die ganze Zeit während sie zusammen waren, konnte er ihre Gefühle sehen, konnte er ihre Lügen sehen und konnte er ihre Ungewissheit sehen. Amelia fühlte sich manipuliert und betrogen. Finn sah sich die denkende Amelia an. "Seit ich dich das erste Mal gesehen hatte, warst du anders als die anderen. Deine Aura war viel grösser und als ich dich dort in Panik auf dem Baum mit den Brokern gerettet habe, hat dein ganzer Körper rot geleuchtet. Die stärkste aller Farben, hatte dich komplett ausgefüllt. Deswegen hast du mich so fasziniert. Wenn jemand eine Gabe bekommt, ist seine Aura auch komplett rot und so gross wie bei der Person möglich. Doch du hattest keine Gabe. Ich wollte dir helfen. Von Beginn an. Deine Aura wurde grösser und stärker, genau wie deine Attacken. Dein Körper war jedoch zu schwach, die Entzündung deiner Gabe aus dir heraus zu bringen." Amelia schien verwirrt. "Wie ein Küken, welches aus der eigenen Schale schlüpfen muss." Amelia nickte und hörte misstrauisch, aber gespannt weiter zu. "Ylvy hat die gleiche Gabe wie ich und hat mir das Sehen auch beigebracht. Als sie dich gesehen hat, befahl sie zu uns, wir dürfen dir unsere Gabe nicht zeigen. Sie sagte, du müsstest selbst zu deiner Gabe kommen, denn sie sah dir von Beginn an an, dass du eine starke Gabe hattest, die Tief in dir schlummerte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es war, dem Engel, den man über alles liebte, sein grösstes Geheimnis nicht anvertrauen zu können." Er seufzte tief. "Du wurdest von Tag zu Tag schwächer und mein Herz schmerzte so sehr, weil ich nichts dagegen tun konnte. Mit der Zeit habe ich festgestellt, dass du nur eine Attacke hattest, wenn eine starke Gefühlsregung in dir vorging. Angst zum Beispiel, bei den Brokern. Also habe ich versucht, dir das grösste und gleichzeitig schönste Gefühl zu übermitteln. Dort als ich dich zu den leuchtenden Blumen mitgenommen habe. Ich wusste ich würde dich in Gefahr bringen, wenn ich dir meine Liebe schwöre, umgeben von dieser atemberaubenden Landschaft in dieser sternenklaren Nacht - denn ich sah deine Liebe zu mir in deinen Farben. So naiv, wie ich war, dir helfen zu können, hätte ich dich damals beinahe umgebracht.
Als du wieder aufgewacht bist, habe ich mir geschworen, dich nicht mehr in eine so emotionale Situation zu bringen. Doch du wurdest immer schwächer und ich wusste, ohne mein Handeln würdest du Tod sein. Unsere Liebe wuchs wie ein kleiner Baum und wurde stärker. Lange hatte ich darüber nachgedacht, ob ich das Risiko eingehen sollte, doch ich wusste es zu bereuen, hätte ich es nicht getan. Und so tat ich, was mich am meisten schmerzte. Ich verliess dich, ich belog dich und ich ignorierte dich. Bewusst habe ich dein tiefes Vertrauen ausgenutzt, in dem ich dir Lügen vorgespielt habe, dort im Wald, kurz vor deiner Entzündung. Vertrauensbruch in der stärksten Bindung die ein Engel eingehen kann." Amelia starrte Finn an. Sie konnte es nicht glauben und versuchte den Moment Revue passieren zu lassen. Sein arroganter Blick. Seine verletzenden Antworten. Konnte das alles nur gespielt sein? Er hatte ihr Herz bereits gebrochen, doch er war der einzige der es wieder zusammennähen konnte. Er war jedoch auch der einzige, der es ganz zerstören konnte. Amelia wusste nicht wie ihr geschah. Ruhe kehrte in den Kreis zurück. Amelia konnte ihm nicht verzeihen. Noch nicht. Ihr Herz blutete und sie musste ihre Kraft in sich behalten, um nicht sofort Feuer zu sprühen oder Bäume aus dem Boden schiessen zu lassen. Sie war komplett verwirrt und liess gedankenverloren kleine Blumen im Gras vor ihr entstehen. Finn beobachtete seine Liebste und wollte nichts sehnlicher als einen Kuss, den er nicht kriegen würde.
"Wieso seid ihr hier? Wohl nicht um mich zu finden und mir eine Geschichte zu erzählen, von der ich nicht weiss, ob ich sie glauben soll oder nicht." Ihr Blick war erneut verschlossen und ihre Stimme knallhart, wie anfangs. Finn brachte kein Wort hervor. Die tiefste Stimme von allen, erhob ihr Wort. "Wir brauchen die Hilfe der Nimsk. Der Krieg steht kurz vor dem Beginn. König Eris rüstet seine Truppen auf, er verspricht ihnen und ihren Familien Essen, Gold und Glück. Das was sie hören wollen. Unser Überraschungsangriff wird nicht mehr reichen, um den König zu stürzen. Wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können." Amelia hob die Augenbrauen. "Wie sollen..." Sie zeigte eine ungefähre Grösse eines ausgewachsenen Nimsk mit den Händen an "...so grosse, ehrliche und äusserst kindliche Männchen in den Krieg ziehen? Das ist Kanonenfutter, eine Selbstmordgarantie. Das kann und das werde ich nicht zulassen." Die harten Worte von Amelia erschraken Finn. Sie war zur Beschützerin dieses Volkes geworden, so schien es.
"Wir wollen die Wichtel nicht an die Fronten schicken. Wir brauchen sie wegen ihren Zauberkräften. Sie können unseren Frauen, Kinder und den Verwundeten Sicherheit geben mit ihrem Schutzzauber." Amelia schien wenig begeistert von der Idee ihre Wichtel, die wie zu ihren eigenen Kindern geworden waren, in den Krieg zu schicken. "Wir müssen sie selbst fragen. Für meinen Teil werde ich mitkämpfen und euch im Kampf gegen den König unterstützen." Sie stand auf und lief in die Richtung aus der sie geflogen kam. Angespannt blickten sich die Brüder an und folgten ihr.
Die zuerst aufgescheuchte Herde kleiner Bewohner, nuschelte innig miteinander und diskutierten. Bei einigen flossen die Tränen von der traurigen Geschichte, was momentan in Lerimed vor sich ging. Indra trat aus der Menge und Amelia hob ihn auf einen grossen Stein, sein Rednerpult, hinauf. "Wir die Nimsk stehen für Gerechtigkeit und Ehrlichkeit, deshalb können wir nicht zulassen, dass Lerimed in den falschen Händen zerbricht. Das Volk der Engel geht uns eigentlich nichts an, aber wir werden am Krieg teilnehmen, weil Amelia wie eine Mutter für uns geworden ist und wir sie nicht einfach gehen lassen können." Sam stand neben seinem Vater und blickte Amelia dabei mit seinen kristallblauen Augen direkt in an. Ein Gefühl der Geborgenheit umgab sie und sie nahm Sam und die bedrückte Menge auf den Arm. Freude umgab sie und Finn sah weg. Sein Herz blutete. Ruan bedankte sich grosszügig bei den Nimsk. Die kleinen Wichtel sprachen wild durcheinander.
"Und wie willst du diese Menge nach Lerimed bringen? Mit diesen kleinen Beinchen sind wir in drei Wochen noch nicht dort." Mit hochgezogenen Augenbrauen und verschränkten Armen stand sie vor ihm. Verlegen kratze er sich an seinen blonden Haaren. "Wir werden sie per Flug transportieren. Die Engel aus Hachmared haben sich bereitgestellt jeweils drei Wichtel zu fliegen."
Auf einmal wurde die Menge mucksmäuschenstill und alle blickten Finn mit grossen Augen an, bis Sam schrie: "Wir dürfen alle nochmals fliegen!" Ein Jubelschrei brach aus und ein überdimensionales Grinsen zeichnete sich auf den kindlichen Gesichtern ab. Finn musste lächeln. Es sah ehrlich aus und Erinnerungen schwappten Amelia an die Oberfläche. In der Zwischenzeit fummelte Ruan entfernt vom Dorf an einer kleinen Taube herum, warf sie in die Lüfte und sah ihr nach. Der Himmel verfärbte sich dunkelgrau und es waren einzelne Regentropfen zu spüren. Wie der Blitz huschten alle Nimsk in ihre Häuser. Sie hassten Regentropfen. Verständlich, wenn ein Tropfen die Grösse seiner eigenen Hand hat. Wie aus dem Nichts standen sie zu dritt im Regen und das Wasser lief Amelia über die Wangen und tropften von ihrem Kinn.
Die Tropfen drückten seine blonden Haare an die Kopfhaut und verfärbten sie dunkler. Sie folgten seinen Haaren bis zur Spitze, wo sie schliesslich auf seine benässten Schultern fielen. Ruan hatte die Hütte von Amelia entdeckt und flüchtet in das Haus. Die beiden konnten ihre Blicke nicht voneinander wenden. Eine unsichtbare Linie war zwischen ihnen, doch der Regen machte sie unleserlich. Nur das Atmen entfloh ihnen, während sie gegenüberstanden. Das Funkeln in ihren Augen wurde riesig und das Verlagen dem Herzen anstatt dem Verstand zu folgen, überwog. Gleichzeitig traten sie aufeinander zu und küssten sich innig. Tränen liefen Amelia die Wangen hinunter und vermischten sich mit dem Regen. Ihre Hände waren um seinen Nacken geschlungen und seine hielten Amelia an der Taille fest. Wild, aber gleichzeitig zurückhaltend küssten sie sich. Erst als ihnen die Luft ausging, fielen sie in eine Umarmung. "Ich habe dich vermisst, meine Kleine." Gänsehaut breitete sich wegen seiner Stimme aus. Amelia hoffte die richtige Entscheidung getroffen zu haben, denn ihr Herz ertrug keine weiteren Stiche. Wie durch Zauberei erwärmte sich ihr Inneres, obwohl es regnete. Völlig durchnässt standen sie alleine auf der Wiese und hielten sich gegenseitig fest. So als würden sie nur zu zweit überleben.
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Frühlingskind
FantasíaABGESCHLOSSEN "Der Nebel war noch dichter geworden, um sie herum war es stockfinster und sie konnte ihre Begleiter nicht hören und schon gar nicht sehen. Als sie eine weitere Minute nur ihnen eigenen Atem vernehmen konnte, versuchte sie gar nicht er...