Kapitel 38

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"Du hast deine Aufgabe nicht erledigt, mein Kind. Du hast ein ganzes Volk zu retten. Willst du wirklich einfach aufgeben?" Die Stimme in ihrem Kopf, konnte nur von ihrer Mutter sein. Ihr persönlicher Schutzengel mahnte sie. Amelia nickte. Sie wollte nicht mehr kämpfen. Einzig aufgeben – das wollte sie und Ruhe wollte sie. Doch ihre Mutter liess sie nicht so einfach aufgeben. "Sei kein Weichei! Es hat einen Grund weshalb ich sagte nur du kannst diese Schlacht gewinnen.

Wer nur stur auf seiner Linie wandert, wird nie den Horizont erreichen. Du musst deine Sichtweise verändern um zu verstehen."

Amelia runzelte die Stirn. Was sie wohl damit meinte? Die mahnenden Worte gaben ihr neue Kraft ihre Versprechen einzuhalten. Sie konnte ihr Volk nicht einfach kampflos aufgeben. Das war nicht ihr Charakter. Denn sie hatte Versprechen gemacht und Versprechen werden eingehalten. Mit einem tiefen Ein und Ausatmen, bündelte sie ihre Gedanken. Ein Licht ging ihr auf und Amelia ärgerte sich, nicht schon längst diese Einsicht gehabt zu haben.

Sie war Himmel und Hölle. Und nur der Herrscher der Hölle konnte das Reich der Unterwelt betreten und nur ein Gott kann den Olymp betreten. Sie war beides nicht und doch war sie beides.

Ihre Augen waren fest geschlossen und sie horchte tief in sich hinein. Sie tauchte in ihre eigenen Gedanken ein. Stille breitete sich in ihrem gesamten Körper aus. Der Schmerz im Arm und in der Schulter wurde zu einem dumpfen Jucken. Hunderte farbige tanzende Fäden zogen sich kreuz und quer durch ihre Gedanken. Manche traten neu auf und andere verschwanden. Sie versuchte einem der Fäden zu folgen. Wie verhext verschwand genau dieser. Die Farben in ihren Kopf liessen sich nicht fassen. Wie Sand rannen die Gedankenfäden durch ihr Bewusstsein. Der dumpfe Schmerz wurde zu einem starken Stechen und lösten sie aus ihrer Trance. Seine Schnitte wurden tiefer und es schien als grübelte er mit seiner Klinge in bereits verkrusteten Wunden umher. Sofort liefen Amelia die Tränen. Ohne diesen Trancezustand waren die Schmerzen beinahe nicht mehr zu ertragen. Luzifer riss an ihrem Arm, sodass ihre Schulterkugel ungehalten hin und her rutschte. Die Lider fest zusammen gedrückt und auf die Zähne beissend, versuchte sie sich erneut in den Trancezustand zu versetzten. Zuerst tauchte der schwarze endlose Raum ihrer Gedanken auf, bevor nach und nach verschiedene Fäden zum Vorschein kamen. Das Fassen liess sie ganz sein. Denn Amelia konzentrierte sich darauf, die Fäden zu ordnen. Sie spürte wie viel Energie sie die Konzentration brauchte, doch die Hoffnung liess sie nicht aufgeben und weiterkämpfen. Nach und nach flossen die Fäden in geraden Bahnen und waren deutlicher erkennbar. Drei Farben stachen sofort hinaus. Ein kristalleneres Weiss, ein feuriges Rot und ein Smaragdgrün. Mit ihrem eigenen Wille sortierte sie alle anderen Farben aus. Wie drei Tore, von denen jedes sie in den Bann zog, flossen die drei Farben in ihren Gedanken herum. Als sie die weisse Farbe greifen wollte, verschwand diese sofort. Grün und Rot blieben übrig und Amelia wusste tief in ihr drin, dass eine der Farben ihre Kraft nach draussen war. Rot – die Farbe der Stärke – ihre Gabe wurde aus dieser Farbe ausgelöst. Die Stärkste unter allen. Grün hingegen – die Farbe der Hoffnung und die Farbe des Frühlings. Nervös versuchte sie die Farbe Grün zu fassen. Der roten Faden schlängelte sich verführerisch um den grünen und versuchte die Farbe abzudrängen, doch Amelia konzentrierte sich ganz fest darauf den grünen Faden nicht zu verlieren, denn sie spürte die Kraft von ihm. Es war ihr Ticket in den Frühling. Zurück in ihre Welt. Ihr ganzer Körper zitterte und sie schwitzte. Ihr Atmen ging schwer und ihre Augen waren wie in Trance – zwar geöffnet, aber leer.

"Vater! Amelia will sich selbst aus der Unterwelt herausholen! Mach was!!" Eris schrie wie ein kleines Kind. Sein Vater lachte belustigt auf, während er sein mörderisches Tattoo an ihrem Arm fertigstellte. Ohne auf Eris oder Amelia zu achten, sprach er "Das ist gar nicht möglich. Niemand kann einfach so die Unterwelt verlassen, ohne die Einwilligung des Herrschers." Er war sich dessen so sicher. Zu sicher. "Verdammt Vater, sieh sie dir an. Sie steht kurz vor dem Sprung in die Welt der Engel!" Eris schrie aufgebracht auf und erst jetzt beim zweiten Mal und als er sein Werk beendet hatte, sah Luzifer auf. Erschrocken wich er von Amelia zurück. Ihr Körper war tropfnass und sie keuchte, als renne sie einen Marathon. Deutliche Zeichen. Wie konnte er die Übersehen. Ihr zarter Körper begann grün zu leuchten und ihre Umrisse verschwanden allmählich. Erstaunt über das Szenario bewegte sich keiner, bis Luzifer einlenkte. "Sie will abhauen! Eris kehre schnell zurück auf die Erde und bring es zu Ende!" Panik breitete sich im Raum aus, während Amelia mit leerem Blick auf die Gestalten blickte und sich ihr Körper langsam in kleine grüne Partikel auflöste und sie immer mehr verblasste. Sie hatte die Macht und die Kraft, Welten alleine zu betreten und zu verlassen. Sie war eine Springerin. Wütend stampfte Luzifer auf den Boden und fuhr seinen Sohn hässig an. Dieser konzentrierte sich. Sein Blick wurde ruhig und Luzifer umhüllte ihn mit einer goldenen Hülle und half ihm beim Weltensprung.

Die Sonne blendete Amelia, als sie nach Luft schnappend die Augen aufriss. Ihr schwacher Körper lag bebend auf dem verkohlten Boden. Das Tor zur Hölle war versiegelt und nur aufgeschürfte Böden von ihrem Strampeln wiesen auf seine Existenz hin. Amelia sah Eris Körper am selben Ort erscheinen, wie sie ihn mit in die Hölle gerissen hatte. Der Schmerz, der ihr zugefügt wurde, war beinahe unerträglich. Ihre Beine wollten sie nicht tragen, so sehr hatten sie gelitten.

Nur ihre Aufgabe in den Augen, Eris und mit ihm alles Leid zu töten, trieb sie an. Mit einem Ruck renkte sie sich die Schulter wieder ein und biss sich auf die Lippen. So stark, dass sich ein eiserner Geruch in ihrem Mund breitmachte. Mit beiden Armen robbte sie nach vorne zu dem erscheinendem Körper. Seine Umrisse waren bereits fixiert. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Eris wieder lebendig wurde und dann hatte sie keine Chance mehr gegen ihn. So zwang sie sich mit den höllischen Schmerzen weiter zu kriechen. Von Büschel zu Büschel zog sie sich vorwärts. Ihr gesamter Körper zitterte und ihr Sichtfeld schwankte bedrohlich stark. Dauernd musste sie ihren Blick neu fokussieren. An seinem Körper angelangt, konnte sie die Energie spüren, die durch sie hindurch in den erwachenden Körper floss. Ihre Hände wanderten zu seinem Schwert und fassten den Griff. Ihre Bewegung stockte, als sie ihr neues blutendes Tattoo erkannte. Schwer schluckte sie. Ein Kloss hatte sich in ihrem Hals gebildet. Sie würde für immer sein sein. Die Hand am Parier, spürte sie das Rütteln, welches von Eris ausging. Sie durfte jetzt nicht länger warten! Mit letzter Kraft zog sie das Schwert, stütze sich darauf ab und stemmte sich auf die bebenden Knie. Jeder Muskel in ihr sträubte sich dagegen, doch ihr Wille trieb sie weiter an. Ihre einzige Chance auf Überleben, trieb sie weiter an. Der Schrei aus ihrem Mund, war eher ein klägliches Heulen, als sie das schwere Schwert anhob und hinuntersausen liess. Eris Augen erleuchteten nur kurz panisch und voller Angst, als er erwachte, bis sein Kopf abgetrennt wurde. Seine Lider zuckten ein letztes Mal, bevor seine Augen leer nach oben in den bewölkten rot golden glitzernden Abendhimmel blickte. Kraftlos liess Amelia das Schwert los und sackte hab auf dem leblosen Körper von Eris und dem Boden zusammen. Ihr Körper bebte und ihre Lunge verkrampfte sich regelrecht, um nach Luft zu schnappen. Sie war völlig erschöpft.

Mit einem Rundumblick, musste sie feststellen, dass die Meisten vom Feld gewichen waren. Wie lange war sie in der Hölle gewesen? Jegliches Zeitgefühl hatte sie verlassen und ihre Gedanken gehörten nur einer Person. Die Person, wegen der sie die Augen noch offen hielt.

Gefallene Engel und tote Kobolde wurden vom Feld geborgen und fein säuberlich nebeneinander hingelegt. Alle Heiler sprangen auf dem Feld umher und betreuten die Verletzten direkt vor Ort. Etwas weiter hinten, erkannte Amelia, was sie suchte. Ein Häufchen Elend krümmte sich am Boden. Eine Wand aus einem weissen Tuch gegen den aufkommenden beissenden Abendwind wurde aufgestellte. Das Tuch war rot befleckt und auch unter seinem Körper war eine grosse rote Lache aus Blut. Ihr Herz blieb stehen. Ruan, Ylvy und weitere Personen verdeckten ständig die Sicht auf ihn, doch Amelia fehlte die Kraft, um zu schreien. Niemand hatte sie bemerkt, als sie aufgetaucht war. Die Verzweiflung um ihn war deutlich zu spüren und alle Heiler rotierten und versuchten planlos etwas zu machen, bis Ylvy alle zum Halten brachte und langsam den Kopf schüttelte. "Er wird es nicht schaffen!" Alle erstarrten und liessen den Kopf nach unten hängen. Obwohl sie beinahe geflüstert hatte, konnte Amelia ihre Worte klar und deutlich hören.

Seine Augen öffneten sich wie durch ein kleines Wunder und blickten direkt in die ihrigen. Die wenigen Sekunden sprachen Bände. Liebe und Schmerz durchflutete Amelia. Sie brachte es nicht über ihr Herz. Sie merkte wie ihr letztes Fünkchen Kraft aus ihrem Körper gesogen wurde. Die Heilung der Wunden stoppte augenblicklich und Amelia sandte die letzte Energie, die sie noch hatte fort. Fort an Finn, der für sie sein Leben riskiert hatte. Zweimal. Mit einem betäubenden Schrei verliess sie der Funke Energie und tauchte tief in Finns Herz ein. Sein Puls beschleunigte sich und seine Atmung verlief wieder regelmässig. Er konnte es schaffen. Alle Blicke wanderten erstaunt zu Amelia und erstarrten. Freudig jubelten sie und rannten auf Amelia zu. Doch Amelia lag kraftlos am Boden. Ihre fehlte die Kraft die Arme und Beine zu bewegen und obwohl sie die Augen aufgerissen hatte, konnte sie nichts sehen. Wie in Watte gehüllte hörte sie dumpfe Schreie und Gespräch. Ihr gelang es nicht sich darauf zu konzentrieren. Egal wie fest sie die Augen aufriss, endlose Dunkelheit gähnte vor ihrem Auge. Nur das Tattoo an ihrem Arm hatte sich fest in ihr Gedächtnis eingebrannt. In krakeliger Schrift, tief in ihre Haut geritzt, fürs Leben gekennzeichnet, stand in grossen Buchstaben HURE DES TEUFELS. Der letzte Gedanke, der durch ihren Kopf geisterte, war das Tattoo, die Demütigung und Lüge, welches sie ab jetzt bis zu ihrem Lebensende begleiten würde, da ihre Selbstheilung in der Unterwelt nicht gewirkt hatte. Bis an ihr Lebensende und darüber hinaus.

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