Kapitel 21

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Weit unter ihr schrie ein Wachmann, als sie die Palastmauer überflog und die ersten Pfeile wurde auf sie gerichtet. Mit der Leichtigkeit einer Feder wehrte sie die Pfeile ab, in dem sie deren Windrichtung minimalst veränderte. Ein fein gespunnenes Netz tat sich vor ihr auf und sie schoss einen kleinen Feuerball darauf, um durch das Loch zu schlüpfen. Die königliche Garde hatte sich auf dem Platz unter ihr aufgestellt und ihre Hände nach ihr ausgestreckt. Ein durchsichtiges Seil hielt Amelia an den Beinen fest und zog sie magisch an den Boden hinunter. Sie flatterte, was das Zeug hielt, doch wurde fortgehend nach unten gezogen. Bäume schossen aus dem Boden und ein transparentes Seil zerriss. Sie taumelte und entfachte sich zu Feuer und die Seile verbrannten sichtbar in der Luft. Der Boden war nur noch wenige Meter entfernt. Doch ob ihr hatten sich Engel mit ausgerüsteten Schwertern aufgestellt und umflogen sie. Sofort entstand ein Wirbelsturm um Amelia und die Kämpfer verloren ihr Gleichgewicht und taumelten unbeholfen in der Luft. Einige legten eine Bruchlandung hin und andere versuchten gegen den Wind anzukämpfen. Amelia erhob sich aus dem Sturm und flog zur grössten Terrasse, auf der sie geschmeidig landete. Keine Sekunde später öffnete sich die Glastüre. Ein grosser Mann mittleren Alters mit rabenschwarzem Bart, fülliger Statur und glattem schulterlangem Haar trat aus dem Palast.

Sein Körper war mit Gold beschmückt und seine durchgehend tiefen schwarzen Augen funkelten Amelia an. Sofort nahm sie ihre Kampfposition ein. Seine Flügel waren gigantisch und in einem dunklen Tannengrün gefärbt. Am Rand leuchteten sie schwarz und silberne Elemente zierten seine Flügel. Amelia runzelte die Stirn. "Bist du Eris?" Ihre starken Worte prallten an seiner Fassade ab. "Ich möchte mir dir sprechen!" Ohne seine Kraft eingesetzt zu haben, schüchterte er Amelia ein. Sie hatte sich nichts anmerken lassen und doch beschlich sie ein ungutes Gefühl, bei ihrer unüberlegten Aktion.

"Komm doch rein, mein Kind." Seine Stimme war sanft und doch schwang Hinterhalt in ihr mit. Amelia wurde von einer unsichtbaren Hand regelrecht ins Haus geschoben. Sie stand in seinem Wohnraum, dessen Tische mit Essen überquollen. Die teuren Möbel waren allesamt mit Gold verziert und an den Wänden hingen hunderte Bilder. Er bat sie sich zu setzen. "Nein, ich stehe lieber." Ihre Widerworte waren dem König wohl nicht genug und so zog er mit Leichtigkeit mit einem Fuss den Teppich unter ihr weg. Unsanft fiel sie rücklings auf das Ledersofa. Seine Kraft war unglaublich stark. Gerade als sie ihre Frage stellen wollte, rannte eine Truppe der königlichen Garde ins Wohnzimmer. "Sie lebt noch?!", schrie einer verwundert zu den anderen. Der König wandte sich zu ihnen und schrie sie an: "Was könnt ihr denn eigentlich? Nicht einmal ein kleines Mädchen konntet ihr aufhalten."

Beschämt sahen sie zu Boden und flehten ihren König nach einer milden Strafe an. "Aber Meister, sie hat uns überrascht und es ist niemand in ganz Lerimed mit dieser Kraft eingetragen. Wir wussten nicht, wie wir reagieren sollten. Verzeiht uns, Herr." Offensichtlich der Anführer der Truppe sprach zu seinem König, während er auf einem Knie vor ihm sass. "Ihr kennt die Regeln. Ihr seid da um die Bürger vor mir zu schützen, nicht um mich zu beschützen. Denn jeder der hier eindringt wird getötet." Die Luft im Raum verdickte sich und Amelias Herz klopfte. Er richtete seine Hand nach ihr, ohne zu ihr zu sehen. Die königliche Garde hob abwehrend die Hände und sahen ihren König und danach Amelia panisch an. Ein junger Engel gleichen Alters, schrie Nein, doch in diesem Moment schoss eine Feuerflamme aus des Königs Hand. Blitzartig bildete Amelia eine Wand aus Feuer vor sich und versteckte sich dahinter. Die Mäuler aller, sogar das des Königs stand offen. Er liess das Feuer erlöschen und nur eine verkohlte Spur von Amelias Feuerwand zierte den teuren Fussboden. "Hmm, interessant." Stirnrunzelnd trat der König auf Amelia zu, die sich vom Sofa erhob, um einigermassen auf der gleichen Höhe zu sein und sah in die tiefschwarzen Augen. Er strich ihr über den Kopf. Ganz sanft. Unwohl versuchte sich Amelia weg zu lehnen. "Na na na. Wieso so schüchtern. Du siehst wirklich aus wie sie. Ihre Augen leuchteten gleich wie die deinigen." Seine Hände waren riesig und schienen Amelia beinahe zu erdrücken. Sie fühlte sich unwohl und verwirrt. Wem sah sie ähnlich?

Die nächsten Worte des Königs liessen sie erstarren. "Willkommen zuhause, meine Tochter." Ein Beben erfüllte ihren Körper. Wieso wagte er es, sie als seine Tochter zu bezeichnen. Der Groll gegen ihn wurde wieder stärker. "Ich bin nicht deine Tochter!" Das konnte nicht sein. Er lachte dreckig und die königliche Garde schaute verdattert zwischen den beiden hin und her. "Na klar, bist du meine Tochter." Er strich ihr über die langen Haare und riss ihr eines aus. Reflexartig nahm Amelia die Hände zum Kopf. "Autsch! Was soll das?" Die silbernen Elemente und das Schwarz seiner Flügel begannen zu leuchten. Amelia trat einen Schritt zurück. Eris nahm das Haar zwischen die Finger, schloss die Augen und schnüffelte daran. Über seinem Kopf tat sich ein Hologramm mit leicht verschwommenen Bildern auf. Bilder aus ihrem Leben. Bilder aus ihrer Vergangenheit. Er konnte sie sehen. Er konnte alles von ihr sehen. Mit offenem Mund beobachtete Amelia, wie der König ihre ganze Vergangenheit aus einem Haar herauslesen konnte. Sie sah sich selbst, während der Entflammung der Gabe. Wie angsteinflössend und schrecklich sie handelte. Die Wut in ihren Augen. "Hmm, deine Gabe ist aussergewöhnlich spät ausgebrochen. Interessant." Eris Worte kamen nicht in ihrem Kopf an, stattdessen sah sie den zerstörten Finn am Boden liegen.

Ihre Arbeiten in der Bibliothek. Die Nachmittagsspaziergänge. Finn und sie während eines Nachtessens. Schlagartig wurde sie rot und blickte blossgestellt nach unten, als Eris über eine heisse Nacht von ihnen, amüsiert schmunzelte und sich über die Lippen leckte. Die schöne Zeit mit Finn spielte sich vor ihr ab. Es wurde kurz schwarz und Amelia dachte, es wäre vorbei, doch als sie sich mit Finn umschlungen im Feld der leuchtenden Blumen wiederfand, wurde ihr klar, wie nahe sie damals am Tod gewesen war. Ihr Herz wurde schwer, bei den schönen Bildern mit Finn. Die Liebe des Lebens, der sie verlassen und betrogen hatte. Weshalb? Dort hatte er ihr seine Liebe erklärt und Amelia hatte damals seine Ehrlichkeit aus tiefstem Herzen gespürt. Wie man sich täuschen konnte. Ihre Gedanken wurden vom König unterbrochen. Eris runzelte die Stirn. "Was hat dieser Typ dir denn angetan, dass du in getötet hast? Aber gefällt mir, wenn sich meine Tochter selbst wehren kann." Getötet. Er kann nicht tot sein. Er darf nicht tot sein. Die Bilder liefen weiter und sie sah sich selbst während einer ihrer Attacken im Wald. Zitternd und nach Luft schnappend. Die Panik war in Finns Augen geschrieben. So schnell wie sie gekommen waren verschwand die Bilder und eine schlafende und von den hässlichen Brokern umgebene Amelia trat ins Bild. Wie sie sich nachts an den Wachen vorbeischlich, wie sie in ihrem alten Zimmer enttäuscht vor dem Spiegel mit aufgemalten Flügen stand, wie sie alleine draussen sass, weil alle Engel Flugschule hatten, wie sie mit ihren Eltern noch glücklich und voller Vorfreude am Abendtisch sass. Ihre Eltern. Eris konnte nicht ihr Vater sein. Sie hatte bereits Eltern, die sie immer geliebt hatten, auch wenn sie nicht viel hatten. Amelia schrumpfte und wurde zu einem kleine glücklichen Kind. Ein Bild wie sie ihrer Mutter stolz eine Zeichnung entgegen hielt. Amelia mit Zöpfchen und Sonntagskleidung. Danach krabbelnd auf dem Küchenboden. Schreiend in den Armen einer fremden Frau. Eingewickelt als Säugling in ein Tragtuch. Eris liess die Bilder langsamer laufen. Amelia war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Die Frau schien Panik zu haben und hüllte sich tiefer in den dunklen Mantel. Tränen liefen über ihr Gesicht. Mit zarten Fingern strich sie über das winzige Köpfchen des Babys, flüsterte einige Worte in sein Ohr und gab dem winzigen Engel einen langen Kuss auf die Stirn. Eingewickelt überreichte sie mit Tränen den Säugling an eine weitere Frau, dessen Gesicht sie nicht sehen konnte, blickte zum Himmel, faltete die Hände und drehte sich weg. Amelia hielt den Atem an. Die Bilder stoppten und Eris öffnete die Augen. Das Haar war fertig. Die ersten Erinnerungen waren nicht mehr vorhanden. Von Informationen und ihrer eigenen Vergangenheit überrumpelt sah sie Eris in die Augen. Wenn ihre Mutter nicht ihre Mutter sondern die Frau vom Bild war, war denn ihr Vater nicht ihr Vater gewesen? Amelia wusste nicht mehr wo sie hingehörte. Sie wurde ihr Leben lang nur betrogen. Von Finn und sogar von ihren Eltern. Von den einzigen Engeln, denen sie jemals vertraute. Alle hatten ihr Vertrauen gebrochen. Plump liess sie sich auf das Sofa fallen und stütze ihren Kopf mit den Händen.

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