"Ich habe Amelia der Ort der tausend leuchtenden Blumen gezeigt. Wir haben uns umarmt und ihre Farben leuchteten kräftig. Danach habe ich ihr gesagt, dass ich sie liebe und ihr einen Kuss gegeben." Beschämt blickte Finn zu Boden. Ylvy legte ihre kleine Hand auf seine und er blickte hoch. "Kurz nachdem sie den Kuss erwiderte, fiel sie schlaff von mir ab und begann erst kurz danach wieder zu atmen. Sie ist noch nicht aufgewacht. Ich habe sie in mein Zimmer zurück geflogen. Was soll ich jetzt tun?" "Hast du ihre Farben denn nicht gesehen?" Finn musste keine Antwort darauf erwidern, denn die hatte seine Oma bereits aus seinen Farben gelesen. Sie seufzte und strich mit dem Daumen über seinen Handrücken. "Es war nicht klug, die Farben zu ignorieren. Aber ich weiss, dass man in der Liebe Dinge tut, die in anderen Ohren absurd klingen." Sie stoppte kurz. Die Trauer in Finn wurde von einer Art Neugierde abgelenkt. "Dein Grossvater war einst sehr ruhig, was überhaupt nicht zu ihm passte. Ich sah in seinen Gefühlen, dass er mir etwas verheimlichte. Doch er stritt es ab. Sofort kam mir der Gedanke er habe eine andere, obwohl ich seine Liebe hätte sehen müssen. Eines Nachts ging er ohne Bescheid zu sagen aus dem Haus. Ich folgte ihm. Bereit seine Affäre zu sehen. Ich hatte bereits Mordgedanken gegen meinen Mann, wenn ich ihn mit einer anderen erwischen würde. Er schlich sich durch die Strassen in ein Lokal, welches hell beleuchtet war. Als ich unüberlegt ans Fenster trat um hineinzusehen, drang aus einem Fenster seine helle Stimme, ich könne ruhig hinein kommen. Da standen alle meine Freunde und Verwandten. Er hatte eine Überraschungsparty zu unserer Rosenhochzeitstag organisiert und ich hatte mich Zeit meines Lebens noch nie so schlecht gefühlt." Ylvy lächelte leicht, während sie verträumt erzählte. "Dein Grossvater kannte mich so gut, dass er wusste ich würde ihm folgen. Wie ein begossenener Pudel war ich dort gestanden, dass kannst du mir glauben."
"So jetzt kümmern wir uns aber um Amelia." Finn war in ihrer Erzählung versunken, dass die erneuten Trauergefühle wie ein Schlag wirkten. Benommen stand er auf und folgte seiner Oma aus dem Haus.
Ihre Laterne leuchtete den Weg durch die verschiedenen Abzweigungen. Das ganze Dorf schien zu schlafen, denn nur das Zirpen der Grillen und das ferne Heulen der Broker war zu hören.
Ylvy trat in das einzige beleuchtete Haus und löschte ihre Kerze. Schweigend liefen sie ins Schlafzimmer, wo der feine Körper unverändert dalag und ganz schwache Farben ausstrahlte. Finn schluckte stark. Einerseits aus Erleichterung, die Farben immer noch zu sehen, aber andererseits aus Enttäuschung, dass die einzige Frau, der er in seinem Leben Liebe geschworen hat in einer Art Koma lag.
Die Schritte der alten Frau waren langsam und ihr weisses offenes Haar wehte hinter ihr her. „Könntest du bitte das Fenster schliessen, mein Junge?" Sie wandte sich zu Finn, der blitzschnell seine hellbraunen Flügel geöffnet hatte und zum Fenster flog. Auf dem breiten Sims landete er, blickte in den Sternenhimmel hinauf und suchte Hoffnung. Mit wenigen Flügelschlägen stand er neben dem Bett und setzte sich auf dessen Kante. Er verfolgte die Bewegungen von Ylvy. Auch ihre violetten Flügel waren ausgebreitet und leuchteten leicht. Finn konnte sehen, dass sie ihre Heilkräfte anwandte. Konzentriert strich sie über ihren Körper und verharrte mit einer Hand über dem Herzen und mit einer auf der Stirn. Wie eine Mutter strich sie über Amelias Kopf und über ihre Haare hinunter. Danach blickte sie Finn an. „Wir müssen warten und beten, dass sie in den nächsten Tagen von selbst wieder aufwacht. Ihr Körper hat zu wenig Energie. Ich riskiere sie zu töten, wenn ich sie aus dem Koma befreie. Er ist in der Regenerationsphase und baut sich wieder auf. Ehrlich gesagt, können wir von Glück reden, dass Amelia selbständig in ein Koma gefallen ist. Ansonsten wäre sie tot." Als Ylvy seine bedrückte Stimmung spürte, nahm sie ihren Enkel in den Arm. Er war einiges grösser als sie und ihre kleinen Hände umfassten nicht seinen ganzen Körper und doch entspannte sich Finn ein wenig, schmiegte sich an seine Oma hinunter und drückte sie sanft. Ylvy löste sich von ihm und gab ihm einen Kuss des Versprechens auf die Stirn. So wie sie es bei ihm als kleiner Junge immer tat. „Gute Nacht, Finn." „Danke Oma, für deine Hilfe. Gute Nacht." Ylvy strich Finn aufmunternd über die Schulter, lief in das Wohnzimmer und Finn konnte nur noch hören, wie sie in ihre Latschen schlüpfte und die Türe hinter sich schloss. Er legte sich neben Amelias Körper hin, nahm ihre Hand und küsste diese sanft. Unverständlich murmelte er: „Es tut mir so leid, mein Engel." Aus seinen Augen rannen Tränen und seine Gedanken gehörten nur ihr, bis er einschlief.
Sein Bruder stand vor ihm und erhob seine dürren Finger in die Höhe. "Du wirst wegen Mordes an der unschuldigen Amelia verurteilt." Seine Stimme war scharf und Finn musste nach oben sehen, denn er war weinend auf seine Knie gefallen. Gedämmt hörte er wie ihn sein Bruder zum Tode verurteilte. Das ganze Dorf blickte ihn finster an und wiederholte die Worte ihres Anführers. "Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben." Die Stimmen schienen ihn zu erdrücken. Er wurde gewaltsam aufgerichtet und festgehalten. Sein Bruder trat auf ihn zu. In der Hand ein riesiges Messer. Seine Augen waren keinerlei mit Mitgefühl, Reue oder Schmerz gefüllt. Sie standen in Hass und für Gerechtigkeit. Finn formte die Worte Bruder und flehte vor sich hin. Doch dieser liess sich nicht erweichen, blieb vor ihm stehen und setze das Messer an seine Kehle. "Du hast sie mit deinem Egoismus umgebracht. Du bist nicht mein Bruder!"
Verschwitzt und kerzengerade fand sich Finn im Bett wieder. Mit einer Hand hielt er sich die Kehle und mit der anderen sein Herz. Es raste. Unsicher riskierte er ein Blick zu Amelia, deren Körper unverändert dalag. Ihre Brust hob und senkte sich und so konnte auch Finn sich beruhigen. Er rappelte sich aus dem Bett und schlürfte ins Bad, wo er seine klebenden Kleider loswurde und eine kühle Dusche nahm. Irgendwie musste er ihr helfen. Und auch wenn er nicht herausfindet, wie er ihr helfen konnte, so hatte er es wenigstens versucht. Er konnte den Gedanken nicht loswerden, noch einen Menschen umgebracht zu haben. Verdrängte Bilder schwappten an die Oberfläche und Finn musste kurz innehalten. Er stütze sich an der kalten Duschwand. Das konnte er nicht zulassen.
Nur wenige Engel waren bereits wach. Die Morgensonne streckte ihre ersten Strahlen über den Wald. Finn flog zu seinem Bruder. Er klopfte vorsichtig an der mit Efeu bewachsenen Türe und trat danach ein. Ruan sass an seinem massiven Eichentisch und schien trotz seiner stämmigen Figur beinahe klein. Misstrauisch hob er beide Augenbrauen und legte sein angefangenes Brot zu Seite. "Was führt dich zu mir, Bruder?" Sie begrüssten sich mit einer flüchtigen Umarmung und Finn setze sich zu ihm. Er wiedergab ihm dieselbe Geschichte wie auch Ylvy schon, nur etwas gefasster. "Sie liegt also seit gestern Nacht im Koma und ist noch nicht aufgewacht?" Finn nickte nur. "Deshalb verliebe ich mich gar nicht erst, das gibt nur Probleme.", meinte sein Bruder. Finn schnaubte. "Könntest du es für dich behalten und nicht dem ganzen Dorf erzählen?" "Aber natürlich. Ich möchte mit dir mitkommen und überprüfen, ob sich ihr Symbol geändert hat. Vielleicht gibt uns das einen Hinweis."
„Und?" Ruan betrachtet die schlafende Amelia. Sie erinnerte ihn an jemanden, doch ihm wollte nicht einfallen an wen. „Es ist unverändert." Der goldene Apfel schwebte wie ein Heiligenschein über ihrem Kopf und drehte sich leicht. „Tut mir leid, Bruder. Du musst heute nicht arbeiten kommen. Mach frei und ruh dich aus." Mit diesen Worten verschwand er. Keine Minute später stolperte Finn aus dem Haus und flog zur Bibliothek. Flüchtig winkte er Brigitte zu und sah sich die veralteten und teils abgefallenen Papierzettel an den Regalen an, die eine Wegleitung durch dieses Sammelsurium bieten sollten. Es war wie Hieroglyphen lesen. Abgesehen davon, dass die Hälfte sowieso nicht mehr sortiert war. Er seufzte tief und begann sich die verstaubten Deckblätter durchzusehen.
Der Sessel warf eine riesige Staubwolke auf, als sich Finn erschöpft mit einem Stapel Bücher daraufsetzte. Kurz hustete er und wedelte ungeduldig in der Luft herum, bis sich der Staub davonmachte. Er ging die Buchtitel nochmals durch und wusste nicht mit welchem er am besten begann. Vor ihm lagen ‚Macht der Engel', ‚Gabenlehre', ‚medizinische Hilfe – Fundamentum' und ‚Deutung und Interpretation der Aura.'
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Frühlingskind
FantasiABGESCHLOSSEN "Der Nebel war noch dichter geworden, um sie herum war es stockfinster und sie konnte ihre Begleiter nicht hören und schon gar nicht sehen. Als sie eine weitere Minute nur ihnen eigenen Atem vernehmen konnte, versuchte sie gar nicht er...