Kapitel 8

62 5 0
                                    

„Woher weisst du das denn alles?" Amelia war neugierig geworden und erschrak wahnsinnig, als hinter ihr die alte Stimme sprach: „Von mir, mein Kind. Du weisst ich bin schon alt und habe so einige Sachen miterlebt." Sie machte eine Pause. "Jetzt hinlegen, eure Wunden brauchen eine Behandlung. Sie haben sich trotz den Flussalgen nicht stark verbessert." Finn tat wie geheissen und legte sich zurück auf die Liege. Ylvy öffnete sanft ihre hellvioletten Flügel, welche anfingen zu strahlen, als sie entfaltet wurden. Ihre Hände hatte sie in eine grünbraune Sauce getaucht und massierte Finns Schulter. Ein beissender Geruch vermischte sich mit der holzigen, feuchten Luft im Raum. Dieser biss die Zähne zusammen und krallte seine Finger in das Holz um die Liege, sodass sie sich weiss färbten. Die Wunde schloss sich langsam und hinterliess keine Narbe auf der Schulter. Einzig die grünbraune Masse lag noch am Ort der Wunde. Amelia staunte. So etwas hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Ylvy wiederholte die Bewegungen konzentriert, bis alle Wunden von Finn verheilt waren. „Wie hast du das gemacht, Ylvy?" Sie lächelte leicht. „Es ist meine Gabe zu heilen, mein Kind."

Auch Amelia setze sich auf die Liege und streife sich die Kleidung ab. „Es wird ein wenig schmerzen.", warnte die alte Frau. Amelia nickte tapfer. Finn konnte sehen, wie sich Ungewissheit und Angst in ihre Faszination mischten. Ylvy verteilte die Paste auf den Knöcheln ihren Händen und begann zu massieren und Amelia fing an zu schreien. Ihre Hände fühlten sich an als erfrieren sie innerlich und verbrannten äusserlich. Sie biss sich auf die Lippen und Tränen liefen unkontrolliert ihre Wangen hinunter. Wie konnte Finn so ruhig bleiben? Als Ylvy mit den Händen fertig war, drückte sie die schluchzende Amelia sanft auf die Liege. Finn nahm Amelias geheilte Hand und hielt sie fest. „Danach ist alles wieder gut. Nicht weinen Amelia." Seine Worte hörte Amelia nicht mehr, der Schmerz in ihre Wade, war schlimmer als sie es sich vorstellen konnte. Sie schrie auf, riss ihre Augen auf und sah Finn erschrocken in die seinigen. Dieser konnte nur noch ein erfüllter Raum von einem gewaltigen Sturm roter Farben wahrnehmen. Schmerz. Ylvy hörte augenblicklich auf mit der Heilung, blickte in Finns erschrockenes Gesicht und sah wie Amelias Kopf zusammensackte und ihre Schreie verstummten. Ihr Körper bebte und zuckte, bevor sie schwer Luft holte und erschöpft aufatmete. Finn blickte immer noch in die undurchdringlichen Augen von Ylvy.

Ylvy wandte sich zu der erschöpften Amelia, strich ihr über die Schulter und sprach sanft: "Du hast es beinahe überstanden. Die kleine Wunde, die an der Wade noch zu sehen ist, wird in den nächsten Tagen von selbst verschwinden. Jetzt geh und ruh dich aus." Schlapp rappelt sich Amelia auf und schleppte sich die Treppen hinunter. Wieso wurde sie ständig von ihrem eigenen Körper überrumpelt? Seit ein paar Monaten schien es immer schlimmer zu werden. Sie musste sich am alten Holzgeländer, welches uneben aus einem Schwemmholzast gebaut wurde, festhalten. Ihre Beine waren müde und ihr Kopf dröhnte.

Ruan stolperte eilig die Treppenstufen hoch, blickte in ein altes ledergefasstes Buch und überrannte Amelia beinahe. Sie taumelte und Ruan musste ihren Rücken stützen und stellte sie wieder sicher auf die Beine. Verwirrt über die langsame Reaktion ihres schlappen Körpers blickte er sie weich an. Ohne Regung blickte sie zurück und blinzelte mehrmals. Ruan runzelt die Stirn, drehte sich ab und hob sein altes Buch vom Boden auf. Er eilte weiter und trat in das Haus von Ylvy. Er schien eine aufgebrachte Frage zu stellen, noch bevor er die Türe schloss, doch Amelia war zu schwach, um sie zu verstehen.

"Was zum Teufel ist sie?" Ruan war wie ein Pfeil in das Wohnzimmer von Ylvy gestürmt. Aufgebracht tigert er durch das Zimmer. "Du hast es auch gesehen. Sie waren gross, mächtig und stark und trotzdem hat sie keine Gabe. Das ergibt keinen Sinn, Oma. Was ist sie?", warf Finn in die Runde. "Beruhigt euch erstmal, Jungs!" Die Stimmung wurde angespannt, denn auch die alte Frau war überrumpelt worden.

Die beiden setzten sich brav, wie kleine Kinder an den alten massrigen Holztisch. Ylvy trat aus dem Wohnzimmer in die angrenzende Küche und die Jungs konnten hören, wie sie Tee aufsetzte. Mit drei Tontassen kam sie zurück und setzte sich an das Tischende. Mit einer gefassten Stimme sah sie hoch und blickte in zwei ahnungslose Gesichter. "Ich war überrumpelt worden. In der Annahme Amelia habe keine Gabe, hatte ich nicht auf ihre Aura und ihre Farben geachtet." "Wieso hat sie eine?" Böse funkelte Ylvy ihren Enkel an, er solle sie nicht während des Sprechens unterbrechen. Finn zog entschuldigend den Kopf ein.

"Ihre Farben weisen eindeutig darauf hin, dass eine starke Macht in ihr lauert. Doch was sie ist, kann man nicht voraussagen."

"Sie hat ein Symbol auf dem Kopf, welches ich noch nie gesehen habe. Bei keinem anderen Engel mit Gabe und auch nicht in einem meiner Lehrbücher. Oma, ich weiss, dass sie eine Gabe in sich hat. Sie trägt als Symbol eines goldenen Apfels über ihrem Kopf. Es muss etwas Mächtiges sein." Es schien Ruan keine Ruhe zu lassen, denn er war aufgewühlt und fuhr sich ständig mit den Händen durch seine hellbraunen, beinahe blonden Haare.

Ylvy seufzte tief und blickte zu Finn. "Hatte Amelia diese Schwächeanfälle schon öfters? Konntest du irgendwelche anderen Farben oder Deutungen einer Gabe erkennen?" Finn hob seinen Kopf von den verschränkten Armen auf, um den Tisch erneut überblicken zu können. "Sie hatte diese Anfälle bereits als wir zusammen zur Schule gingen. Doch sie waren nie so heftig. Meist waren es nur Atemschwierigkeiten wegen ihres Asthmas. Im Wald ist es jedoch immer schlimmer geworden. Ich hatte Angst sie würde gar nicht mehr aufwachen. Mir ist ein gewisses Muster aufgefallen. Es schien, als hätte sie die Anfälle nur bei starken Gefühlsausbrüchen. So wie Schmerz oder Angst." Nachdenklich stütze Ruan sein Kinn auf der Hand auf, während seine Oma die heisse Teekanne an den Tisch brachte. "Wir werden ihr nicht sagen, was wir gesehen haben. Dass sie eigentlich eine Gabe hätte, denn das weiss sie nicht. Ich habe ihren Ehrgeiz und ihr Verlangen nach Flügeln, wie die unsrigen gesehen. So leid es mit tut, Jungs. Ihr dürft ihr nichts erzählen. Beobachtete sie und vielleicht geschieht die Entflammung der Gabe bei ihr irgendwann von alleine. Wir können ihr nicht helfen, wenn wir nicht wissen was ihr fehlt." Schweigen erfüllte den Raum. "Und was ist, wenn ihr Körper zu schwach ist für ihre Gabe?" Ruan und Ylvy blickten zu Finn, der an seinem Kamillentee schlürfte und schulterzuckend in die Runde sah. "Ich glaube zu wissen, dass ihre Eltern eine relativ schwache Gabe haben. Folglich müsste sie auch eine schwache Gabe haben. Oder ebben gar keine. In keinem mir bekannten Fall, wurde ein Engel geboren, dessen Gabe so mächtig ist, wie die Farben, die Amelia kurz vor ihren Anfällen ausstrahlt. Ihre Gabe müsste also stärker sein, als die ihrer Eltern. Das ist gar nicht möglich."

"Was, wenn es nicht unmöglich ist?" Die Stimme von Ruan war sachlich und sein Ausdruck neutral. "Doch wenn es so wäre, dass ihr Körper zu schwach ist für ihre Gabe, können wir nur hoffen, dass sie die Gabe niemals bekommt. Denn, meine Enkel, ihr könnt euch daran erinnern, wie viel Kraft eine Entflammung kostet. Bei ihr würde dies möglicherweise der Tod bedeuten."

Amelia sass alleine am See. Die Wasseroberfläche wirkte wie ein goldiger Teller in der Abendsonne. Ihr Körper hatte sich beruhigt, doch ihre Gedanken rasten. Seit wann, waren diese Attacken so häufig und so stark geworden? Sie wurde das Gefühl nicht los, dass ihr Körper von etwas anderem kontrolliert wird. Von etwas, dass in ihr drin lauert. Sie seufzte auf und legte ihren Kopf auf die angewinkelten Beine ab.

"Was ist denn los?" Finn hatte sich neben Amelia gesetzt. Lustlos legte sie ihren Kopf zur Seite, sah ihn an und richtete den Blick zurück auf den See. "Hey Amelia, ich werde auf dich aufpassen. Morgen nach der Versammlung werde ich dir das Dorf zeigen und die Bibliothek. Vielleicht finden wir dort einen Grund zu deinen Anfällen. Hmm, was meinst du?" Behutsam legte Finn einen Arm um ihre Schulter und sie schmiegte ihren Kopf an ihn. "Ja, ist gut." "Erstmals werde ich dir mein Haus zeigen. Wir können nicht länger hierbleiben, meine Liebe." Erstaunt sah sie zu Finn. "Die Broker suchen das Dorf in der Nacht heim. Die Felswand ist ihnen zum Hochklettern jedoch zu steil. Doch hier unten sind wir nicht sicher." Amelia stand auf und konnten tatsächlich keinen Engel mehr auf der Wiese ausmachen. Einige Engel begannen die untersten Treppen nach oben zu ziehen. Schnell eilten Amelia und Finn zur Treppe, an dessen Ende ein alter Herr stand und geduldig auf sie wartete. Nachdem sie die Treppe erklimmt haben, wurde sie nach oben gezogen. Es schien als schwebte Hachmared über dem Boden. Und es fühlte sich beinahe an wie fliegen. Beinahe. 

FrühlingskindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt