"Finn, hau ab! Du weisst, dass ich keine Gabe habe. Wieso soll ich mich morgen an der Offenbarung blossstellen. Wenn ich nicht sowieso ins Land der Aussenseiter geschickt werde, werde ich mein ganzes Leben lang verspottet und gehasst. Stell dir vor, ich könnte niemals einen vernünftigen Beruf ausüben, denn sobald einer kommt mit einer Gabe, auch wenn sie wahnsinnig schwach ist, werde ich nach ihm kommen. Ich will nicht mein ganzes Leben lang als Dreck behandelt werden. Verstehst du das denn nicht?"
Die Verzweiflung, die Finn im beschienenen Gesicht sah, war riesig. Er war einer der wenigen gewesen, der Amelia in der Schule nicht geschuppst oder gemobbt haben. Sie hatte es nicht leicht. Anfangs, als die ersten Schüler ihre Gabe bekam, war ihr Leuchten in den Augen riesig gewesen. Die Zahl der Schüler mit Gaben und Flügeln wuchs rasch. Für die meisten wurde das Flugtraining eingeführt und es wandten sich immer mehr Engel von Amelia ab, die ihre Gabe bereits hatten. Nach einiger Zeit, in der sie noch alle aufgemuntert haben, die Gabe würde schon noch kommen, wandten sich alle von ihr ab und behandelten sie wie Abschaum. Und das alles nur, weil sie keine Gabe hatte. In den Flugstunden der anderen sass sie auf dem Baum und blickte neidisch nach oben und manchmal, da weinte sie auch. Es schien niemandem ausser Finn aufgefallen zu sein.
"Der Tag der Offenbarung ist nichts weiter, als eine Präsentation seiner Kräfte, seiner Arroganz und Eitelkeit vor dem König. Wer besitzt die stärkste Kraft und kann sich am besten vor dem Publikum präsentieren? Es ist ein Einzelkampf für seine Eitelkeit. Wer will da schon dabei sein? Ich habe beschlossen, dich zu begleiten."
Abstossend hob Amelia beide Hände in die Höhe.
"Nein, nein, nein, das geht nicht!" "Wieso denn nicht?", meint Finn.
"Ich gehe ins Dorf der Aussenseiter. Dort gehöre ich hin. Du gehörst zu deiner Familie, zu deinem Stamm, zu unserem König, um ihm Dienste zu leisten."
"Amelia, wie soll ich dem König mit meiner Gabe Dienste leisten können? Ich kann die Flügel unsichtbar mache. Was bringt ihm das?"
Sie verzog den Mund, zuckte mit den Schultern und lief weiter in den dunkeln Wald hinein. Darauf wusste nichts zu erwidern. "Wenn es denn unbedingt sein muss.", sagte sie, doch Finn wusste, dass ein Begleiter an ihrer Seite nicht schaden konnte.
Der dichte Wald erhellt sich nur sehr langsam in der Morgensonne und doch wurde er in ein goldenes Licht gelegt. Die kleinen Wege wurden übersichtlicher. Amelia sprach kein Wort mit Finn, sie war zu sehr in ihren eigenen Gedanken versunken. „Dieses violette Kraut, mit welchem du die Broker vertrieben hast. Was war das?" Finn schien aus den Gedanken gerissen zu sein. „Das ist Mönchspfeffer. Ein Kraut, dessen Geruch die Broker verscheucht." Seine Antwort war kurz und bündig und es schien nicht, als wolle er sie weiter ausführen. Amelia war erstaunt. Denn für sie war das komplett neu. „Und weshalb pflanzen wir um unsere Stadtmauer keinen Mönchspfeffer, anstatt so viele Wachen aufzustellen?", wollte sie deshalb erstaunt wissen. Finn seufzte. „Weil nicht einmal der König von dieser Wirkung weiss."
Amelia beschloss nicht weiter zu fragen. Sie wusste, sie würde keine Antwort erhalten und so liefen sie stillschweigend in der Morgensonne durch den Wald. Man hatte ihr gesagt, das Dorf der Aussenseiter läge ganz im Norden der Stadt. Gelegentlich sah sie sich den Mooswachs der Bäume an, um sicher zu gehen, dass die Laufrichtung stimmte.
Seit einigen Stunden war das Duo nun unterwegs. Sie hatten nicht viele Worte miteinander gewechselt. Die Beine von Amelia schienen von selbst zu laufen und ihre Lunge brannte wie Feuer bei jedem Atemzug, den sie nahm. In kurzen Abständen blieb sie stehen um Luft zu holen, wodurch sich das Brennen nicht verbessert. Finn wartete. Er war ihr immer einige Schritte voraus und seufzte, als sie erneut stehen blieb. Ihr Blick ruhte aus einem Mokasin, während sie ihre Hände auf den Knien abstütze. „Geh, wohin du auch immer willst oder flieg zurück in die Stadt. Ich kann nicht fliegen. Ich halte dich nur auf deinem Weg auf." Schweratmend fuhr sie mit einem schnippischen Unterton fort: „Du musst mich nicht beschützen oder so tun, als könnte ich nicht auf mich selbst aufpassen."
„Doch, das muss ich, Amelia. Und jetzt komm weiter." Finn war harsch zu ihr. Amelia konnte ihn immer weniger leiden. Er ging zu schnell für sie, sprach nicht mit ihr und hatte absolut kein Verständnis für ihre schlechte Lunge.
„Ich bin alleine geflohen und werde auch alleine an meinem Ziel kommen. Ich brauche niemanden. Und dich und deine doofe Gabe am wenigsten."
Empört richtet sich Amelia auf und setzte den Weg durch den steilen, voll mit Bäumen bewachsenen Waldhang fort. Sie musste sich redlich an den Baumstämmen hochangeln, um weiterzukommen. Während Finn mit wenigen Flügelschlägen oben war. „Soll ich dir helfen?", rief er von oben den Hang herunter. Sie würde sicherlich keine Hilfe von ihm annehmen. „Nein!", schrie Amelia zurück.
Ihre Lunge brannte erneut wie Feuer. Den erhöhten Puls konnte sie in ihren Händen spüren, die sich an der kalten, moosbewachsenen Rinde abkühlten. Sie waren schmutzig, als Amelia an der Kante ankam, ihr Gesicht purpurrot und ihre Lunge fühlte sich fürchterlich an, doch sie wollte jetzt keine Pause machen. Finn hat es nicht verdient, sich wegen seiner kleinen Gabe besser zu fühlen. Und das würde er garantiert, wenn sie stehen blieb. Wenn er es nicht schon tat. Sie reckte ihren Kopf, schüttelte das Haar, richtete ihre kleine Ledertasche und lief ohne ein Wort an Finn vorbei. Dieser hatte ein leichtes Schmunzeln auf dem Gesicht, als er ihr folgte.
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Frühlingskind
FantasyABGESCHLOSSEN "Der Nebel war noch dichter geworden, um sie herum war es stockfinster und sie konnte ihre Begleiter nicht hören und schon gar nicht sehen. Als sie eine weitere Minute nur ihnen eigenen Atem vernehmen konnte, versuchte sie gar nicht er...