Kapitel 5

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Alice

"Ja, alles bestens", meinte Miss Webster nur, bevor sie aufstand und schleunigst den Raum verließ.
Ich stand eine Weile verwirrt an ein und der selben Stelle, bis ich ihre Handlung erst realisierte.
Was war gerade passiert?

"Entschuldigen Sie Martha, aber wissen Sie wo Miss Webster hin ist?"
Sie war zwar die letzte Person, die ich Fragen wollte, aber sie wusste als ihre Sekretärin wohl am besten Bescheid.
Martha seufzte und drehte sich von ihrem Bildschirm zu mir um.
"Vierter Stock, Raum 26 ,aber ich würde sie alleine lassen. Wenn sie dort ist, möchte sie lieber in Ruhe gelassen werden"
Hatte sie mir gerade wirklich eine Antwort auf meine Frage gegeben? Eine halbwegs freundliche? Ohne irgendwelchen Vorwürfen?
Wow.
"Danke Martha"
Ich hastete schnell in Richtung Aufzug und drückte den Knopf mit der Nummer 4.
Als Miss Websters persönliche Assistentin musste ich doch nach ihr sehen, nicht wahr?

In dem benannten Stockwerk angekommen stieg ich aus dem Aufzug und betrat etwas unschlüssig den Flur.
Links oder rechts?
Ich sah mir die Raumnummern genauer an und nahm dann an, dass ich nach rechts den Zahlen aufsteigend folgen sollte.
23, 24, 25...26!
Endlich an dem Raum angekommen blieb ich kurz stehen und überlegte ob ich klopfen sollte, als ich Geräusche von innen wahrnahm.
Es klang fast wie ein...Schluchzen.
Ich klopfte sanft an die helle Holztür.
"Miss Webster?"
Das Schluchzen hörte abrupt auf und ich nahm Schritte wahr, die immer näher kamen, bevor dann plötzlich die Tür aufgerissen wurde.
"Was machen Sie denn hier?", fragte sie mich in einem verärgerten Tonfall.
Sie sah verweint aus, ihre Augenringe waren stärker und ihre Augen gerötet.
Auch ihr Make-Up war etwas verronnen.
"Ich wollte sicher gehen, dass es Ihnen auch wirklich gut geht"
"Sie sehen doch, dass es mir gut geht und jetzt gehen Sie bitte", meinte sie nur bitter und wollte mir gerade die Tür vor der Nase zuschlagen, als ich schnell in den Raum huschte.
"Es geht Ihnen nicht gut, machen Sie mir nichts vor. Sie sollen wissen, dass Sie mit mir darüber sprechen können, wenn Sie möchten", bot ich ihr an.
"Ich möchte aber nicht, danke. Nun entschuldigen Sie mich bitte, ich habe noch etwas zu erledigen. Alleine. Kommen Sie um Punkt 15:00 Uhr in den zehnten Stock, Raum 10. Sie werden bei einem meiner Meetings dabei sein und Notizen machen, verstanden?"
"Ja, Miss Webster"
"Gut"
Damit war sie auch schon wieder verschwunden.
Hatte sie mir nicht eigentlich den restlichen Tag frei gegeben?

Ich seufzte und vergrub mein Gesicht in den Händen. Was war nur vorgefallen? 'Ist jemand gestorben? Hat sie eine Trennung hinter sich?'
Das alles waren Gedanken, die in meinem Kopf herum schwebten. Viel zu dramatisch für meinen Geschmack.

~

"Haben Sie sie gefunden?"
Ich sah Martha fragend an, unwissend, was sie wohl meinte.
"Miss Webster? Haben Sie sie gefunden?"
Ich seufzte.
"Ja und nein"
Martha zog eine ihrer Augenbrauen hoch und sah mich verwirrt an.
"Ich habe sie gefunden, aber sie möchte nicht reden", murmelte ich und lehnte mich gegen die Rezeptionstheke.
"Sie möchte nie wirklich Gesellschaft haben, wenn sie sich in diesem Raum verkriecht", seufzte Martha und rollte mit ihrem Sessel von ihrem Computer weg.
"Was ist das überhaupt für ein Raum?", fragte ich neugierig. Neugierig...ich war nicht neugierig. Einfach...besorgt. Seit wann war ich neugierig, ich...
"Man könnte es ihren zweiten Wohnsitz nennen", lachte Martha, was mich wiederum erstaunte.
Ich hatte Martha noch nie lachen gehört.
"Achja?"
"Ja"
"Wieso?"
"Was wieso?"
"Naja, wieso?"
"Ich weiß nicht, was Sie meinen"
"Ich dachte, das wäre nur ein kleiner Raum"
"Nein"
"Nein?"
"Nein"
"Was dann?"
"Was meinen Sie?"
"Wie groß ist er denn dann?"
"Sehr groß"
"Aha"
"Ja"
"Und weiter?"
"Was meinen Sie denn jetzt schon wieder?"
"Wollen Sie mir nicht ein bisschen mehr erzählen?"
"Ich kann nicht"
"Wieso können Sie nicht?"
"Sie lässt niemanden hinein. Alle Angestellten wissen zwar, dass sie sich gerne dort aufhält, aber wir wissen auch, dass sie noch nie wirklich jemanden freiwillig hinein gelassen hat, geschweige denn für eine längere Zeit"
Ich schwieg für einen Moment.
"Heißt das, niemand hat diesen Raum jemals gesehen?"
"So ist es"
"Huh"
Ich überlegte, ob ich überhaupt etwas von dem Raum wahrgenommen hatte, aber ich konnte mich an nichts erinnern.
Ich war mehr auf Miss Webster fixiert gewesen.
"Na gut, gibt es in der Zwischenzeit irgendeine Aufgabe für mich? Ich soll erst um 15 Uhr in den zehnten Stock kommen"
"Nein"
"Nein?"
"Nein"
Was war heute nur los. Zuerst der Vorfall mit Miss Webster und nun diese ungewöhnlichen Gespräche mit Martha. Martha, die mir den Tag davor nicht einmal in die Augen blicken wollte.
Ich schüttelte den Kopf und entschloss mich dazu, im Büro zu warten.
Dort hatte ich immerhin noch all meine Sachen.

~

15 Uhr schlich sich langsam an und ich wusste nicht genau, ob es so schlau wäre, jetzt schon in den zehnten Stock zu fahren.
Immerhin hatte Miss Webster gesagt PUNKT 15 Uhr.
Ich seufzte und stand zu schnell auf, was mir wieder mein mir allzu bekanntes Schwindelgefühl gab. Langsam bildeten sich verschwommene, schwarze Punkte vor meinen Augen und ich begann zu zucken, bevor ich zusammenbrach.
Sobald ich am Boden lag, war alles wieder vorbei. Ein mir bekanntes Schema.
Wenn ich zu lange an dem selben Platz saß und mich auf etwas bestimmtes fixierte und dann zu schnell aufstand, brach mein Kreislauf zusammen.

Ich stand langsam auf, stützte mich noch einen kurzen Moment auf meinem Schreibtisch ab, bevor ich einen Notizblock und einen Stift nahm und den Raum verließ.

~

20, 19, 18, 17, 16, 15, 14, 13, 12, 11...10!
Nachdem ich mit dem Aufzug zehn Stockwerke nach unten gefahren war, kam ich endlich im zehnten Stock an.
Ich schritt auf den Gang hinaus und sah mich um. Dieses Stockwerk hatte wenig Räume, dafür waren alle Türen Doppeltüren, was hieß, dass die Räume umso größer waren.
Ein rascher Blick auf meine analoge Armbanduhr verriet mir, dass es bereits 14:59 war.
Jetzt aber schnell.
Ich fand den zehnten Raum schnell, was einfach war, denn er war der allerletzte.
Ich klopfte leicht an die dunkle, schwere Holztür und wartete auf ein 'Herein', welches aber nie kam.
Ich klopfte etwas fester. Keine Antwort.
War ich etwa falsch? Nein. Nein, ich war richtig.
"Miss Brown", kam eine strenge Stimme hinter mir.
Ich schoss herum und blickte Miss Webster in die Augen.
"Sie sind pünktlich, wie ich sehe. Sehr gut"
Sie hatte einen großen Schlüsselbund in der einen Hand und einen dicken Ordner in der anderen.
"Könnten Sie vielleicht von dem Türschloss wegtreten, damit ich den Raum aufschließen kann?"
Ich nickte perplex und trat einen Schritt zur Seite.
"Danke"
Sie steckte einen großen Schlüssel in das Schloss und schloss den Raum mit einer flinken Handbewegung auf.
Sie betrat ohne ein weiteres Wort den Raum und setzte sich an das Ende eines großen Tisches.
Ich folgte ihr rasch und stand dann nur unschlüssig da.
"Setzen Sie sich", meinte Miss Webster und deutete auf den Sessel neben sich.
Ich nickte nur und legte zuerst meine Utensilien ab, bevor ich mich neben sie setzte.
"In zehn Minuten werden fünf wichtige Firmenvertreter eintreffen. Ich bitte Sie seriös zu wirken und wichtige Informationen mitzuschreiben"
"Natürlich, Miss Webster"
Meine Stimme zitterte ein wenig, was Miss Webster wohl merkte, da sie fragend eine Augenbraue hoch zog.
"Ist alles in Ordnung?", fragte sie mich und ich meinte einen kurzen Augenblick Sorge in ihrem Gesicht wiederspiegeln zu können.
"Alles bestens"
Sie schüttelte nur den Kopf.

"Wollen Sie wirklich nicht darüber reden?", fragte ich nach einigen Momenten der Stille.
Sie schien einen kurzen Augenblick zu überlegen.
"Ich...nein"
"Na gut"
Es herrschte wieder eine unangenehme Stille, was mich etwas nervös machte.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und fünf Männer in schwarzen Anzügen kamen herein stolziert.
"Guten Tag"
Miss Webster war neben mir aufgestanden und hielt den Pinguin-gleichenden Wesen ihre Hand entgegen.
'Diese Hand ist viel zu schön, um von diesen Männern genommen zu werden', dachte ich innerlich und erstarrte.
Nein, nein, nein!
'Kontrolliere deine Gedanken Alice'
"Und Sie sind?"
Ich sah auf und blickte einem großen Mann entgegen.
"Brown, Alice Brown. Ich bin Miss Websters Assistentin", stellte ich mich vor.
"Andrew Larkwett, freut mich Sie kennen zu lernen. Das sind Michael Stephens, Sidney Stones, Stanley Wildford und Christian Lambach", stellte er sich und seine Mithängsel vor.
Ich sah mir die Männer genauer an.
Alle bis auf Andrew waren Blond und rasiert. Andrew hingegen hatte schwarze, dicke Haare und einen drei Tage Bart. Keiner war sonderlich attraktiv, fand ich, aber das lag womöglich an meiner Sexualität.
"Freut mich", meinte ich nur schnell, gab allen die Hand und setzte mich dann wieder.
Mein erstes, offizielles Meeting.
Mann, war ich aufgeregt.

She's the Webster (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt