1.2 Der Erste Monat

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Finan sagte nichts mehr. Es war zu dunkel, um irgendwelche Umrisse erkennen zu können. Sie schluckte schwer und versuchte das heftige Rauschen und Klopfen in ihren Ohren zu ignorieren und horchte stattdessen auf die Stimmen vor ihr.

Elyon konnte keinen einzigen Laut verstehen. Die Stimmen waren leicht aufgebracht, als wären sie neugierig oder verwirrt.

»Klingt nicht so, als würde ihre Sprache auch nur ansatzweise unserer ähneln«, sagte Finan. Die Stimmen vor ihnen erstarben für einen Moment. Dann laute, überraschende Rufe.
»Sie haben jetzt zumindest ihre Bogensehnen entspannt. Einer von ihnen kommt gerade auf uns zu. Ein Mann mittleren Alters.«

»Höhental?«, klang es in einem sehr harten Akzent. Es erinnerte sie daran, wie Aik sprach.
»Ja! Höhental!«, sagte Finan.

Der Mann rief den anderen etwas zu, ein paar Gespräche entstanden, die Worte rollten in so einer Geschwindigkeit in ihr hinein, dass Elyons Ohren pochten.

»Du hast nicht zufällig ihre Sprache in diesen letzten Augenblicken gelernt, oder?«, fragte Finan.
Sie sah kurz über ihre Schultern und blähte ihre Nasenflügel auf. Was für Fantasien hatte dieser Prinz nur?

»War ja nur eine Frage. Du saugst sonst Wissen auf als wärst du ein Schwamm. Wenn man nach Gerüchten geht.«

Elyon seufzte und drehte sich wieder nach vorne. Sie konnte. Früher. Doch ihre Augen waren dabei ihr wichtigstes Werkzeug gewesen. Ohne sie, konnte Elyon nichts sehen und lesen, nicht schreiben oder zeichnen. Wie sollte sie neue Dinge lernen? Wie sollte sie Gefahren erkennen und aus dem Weg gehen? Ihr Herzschlag erschütterte ihren Körper und Elyon drückte ihre Finger gegen die schmerzende Brust.

Jesko winselte, die Muskeln unter ihren Knien zuckten, als er seine Ohren hin und her bewegte.
Elyon nahm tief Luft und ignorierte ihre Sorgen. Sie mussten irgendwie mit den fremden Menschen reden, um Unterkunft zu bekommen. Die Kälte kroch durch Elyons Mantel. Ein warmer Ort war wichtiger, als ihre schweren Gefühle. Sie konnte nicht ihre Augen benutzen. Doch vielleicht konnte der Prinz helfen.

»Kannst du zeichnen?«, fragte Elyon.
»Zeichnen? Wie kommst du darauf? Aber ja, wenn du schon so fragst, ich bin sehr gut im Zeichnen. Nicht so gut wie mein Kunstlehrer, doch genug um es in die Kunstsammlung meines Vaters zu schaffen, und zwar ...«

Elyon ignorierte sein Geschwafel und trommelte leicht mit den Fingern auf Jeskos Stirn, der sich sofort ins Gras legte.
»Warte, was hast du vor?«
»Du zeichnest. Woher wir gekommen sind. Reise. Und brauchen Unterkunft.«

Elyon beugte sich nach vorne, schnappte mit ihrer Hand nach einem Bündel von Jeskos Fell und kletterte die Seite des Drachen hinunter. Dann als, sie mit ihrer Fußspitze den Boden spürte, löste sie ihre Hand, landete auf den harten Erdboden und streckte ihre halbtauben Beine.

»Wie soll ich bitte das alles zeichnen?«
»Mir egal. Papier und Kohle in der Tasche.«

»Nein! Das ist viel zu wertvoll! Der Boden dort vorne sieht lockerer aus. Ich nehme einfach ein Messer und zeichne dort.«

Das war ihr auch recht. Sie blieb an Jeskos Seite und ließ Finan machen. Die Stimmen waren wieder verstummt. Elyon rechnete damit, dass sie den Prinzen beobachteten. Elyon schluckte wieder und knüllte den Saum ihres Ärmels in ihrer Hand zusammen. Würde alles gut gehen? Konnte Finan wirklich zeichnen? Würden die Fremden ihn verstehen? Was wenn sie ihnen keine Unterkunft geben wollten?

Wieder riss ein Winseln Elyon von ihren Gedanken los. Was war mit ihr? Sie machte sich sonst keine unnützen Sorgen. Es musste an ihrer fehlenden Sicht liegen. Ihrer fehlenden Hand.

Elyon rieb sich die brennenden Augen und wartete. Hörte dem Kratzen zu, das nicht weit von ihr aus Finans Zeichnungen stammen musste. Den leisen Stimmen die miteinander leise Rat hielten.

Elyons Erwachen | Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt