6.2 Der fünfte Monat

24 5 2
                                    

Am nächsten Morgen saßen Finan und Elyon wieder in der Klinik, doch dieses Mal nicht im Warteraum in der Nähe des Eingangs. Man hatte sie ein Stockwerk höher geschickt, wo sie in einem viel kleineren Wartezimmer saßen. Niemand sonst saß in dem Raum, den man mit kleinen Nadelbäumen in Töpfen geschmückt hatte, sowie einem hellblauen, großen Teppich. Zusätzlich versank Finan einen weichen, gepolsterten Sessel, was eindeutig dafür sprach, dass man hier länger auf seinen Termin warten musste.

Sie hatten einen Platz neben dem Fenster ergattert und Elyon starrte schweigsam in die Leere. Sie hatte seit gestern kaum noch gesprochen. Selbst als Wotan sie zum Essen in die Stadt eingeladen hatte, hatte sie während ihrer Gespräche kaum ein Wort gesagt, was nicht überraschend war, doch sie hatte auch eindeutig kaum zugehört.

Ihre Miene hatte auch jetzt nicht die übliche grimmige und forsche Finsternis, stattdessen war ihr Gesicht mit Sorgenfurchen verzerrt. Finan wagte es nicht ihr irgendeinen Trost, außer seiner Gegenwart anzubieten. Er konnte sich nicht vorstellen, was es bedeutete, eine korrupte Gabe zu haben. Er hatte von den Schattenwesen gehört, die dank korrupten Gaben entstanden waren. Seine Feuerkameraden hatten Geschichten miteinander geteilt. Es endete üblicherweise damit, dass sich die Betroffenen als wahnsinniges Ungeheuer alleine um ihr Schicksal in den Wäldern kämpfen mussten. Und wenn sie den Menschen zu gefährlich wurden, mussten sie mit ihrem Leben bezahlen.

Das würde Elyon nicht passieren. Es durfte ihr nicht passieren. Sie mussten noch nach einer Lösung für den Fluch finden, bevor er Nevin endgültig verlor. Und so stachelig sie manchmal war, Finan fand ihre Gesellschaft immer noch viel angenehmer als die von den meisten Adeligen, die er bis jetzt getroffen hatte. Elyon war nie aufgesetzt oder heuchlerisch. Das war selten zu finden, zumindest im Kaiserreich.

»Elyon?«, rief eine der Krankenpfleger. Die junge Frau hatte ihre Haare zu einer komplizierten Flechtfrisur zusammengebunden. Finan zählte mindestens sieben Stränge. Alle Pfleger in der Klinik trugen einfache hellgraue, langärmlige Hemden und Hosen. Die Ärzte trugen über dieser Kleidung noch einen Überwurf, der fast an einer Schürze erinnert, oder einen der langen Mäntel, wie sie die Gelehrten trugen. Ihre Kleidung war jedoch nicht edel genug, als dass Finan ihnen lange seine Beachtung schenkte. Und selbst wenn sie es gewesen wären, Aufregung machte sich in seinem Magen breit und er war zu sehr von dem klammen Gefühl abgelenkt, um an etwas anderes zu denken.

Sie wurden in ein kleines aber langes Zimmer geführt. Ganz hinten auf der anderen Seite stand ein kleiner Schreibtisch vor einem breiten, mit Büchern vollgestopftes Regal. Nicht weit davon stand eine Gruppe von drei hellblauen Sesseln, um einen kleinen Tisch platziert. Auf einem von ihnen saß die Ärztin, gekleidet mit einem der besagten Mäntel. Augen die fast so grau und hell waren wie der Winterhimmel sahen sie über fingerdicke Brillengläser hinweg an. Sie stand lächelnd auf und legte ihr Schreibpult auf den Tisch.

»Ah! Ihr seid unsere verehrten Gäste aus dem Geschlossenen Westen! Es ist mir eine Freude, euch kennenlernen zu dürfen.« Die Ärztin trat auf sie zu, legte ihre Hände gekreuzt ineinander und verbeugte sich leicht. Elyon und Finan wiederholten die Begrüßungsgeste der Wächter.

Sie bedeutete ihnen, sich hinzusetzen, während sie selbst zurück zu ihrem alten Platz kehrte und ihre Schreibutensilien in die Hand nahm. Sie hatte einen dieser edlen aus poliertem Holz gemachten Füller, die Finan sich auch noch anschaffen wollte, ehe er die Wächterstadt verließ.

»Mein Name ist Erda, ich habe jahrelang Korruptionen studiert und bin für die Gesprächseinheiten verantwortlich, die wir mit Patienten führen, deren Korruptionen noch am Anfang stehen.« Sie sprach langsam und betont, ihre Stimme war klar und passte zu dem noch jugendlichen Gesicht. Nur ihr weißes Haar verriet, dass sie bereits um einiges älter war als ihre Gäste. »Ich versuche zusammen mit meinen Patienten herauszufinden, was die Korruption verursacht hat. Wir haben festgestellt, dass es oft schon hilft, wenn man über vergangene oder auch gegenwärtige Probleme und Schwierigkeiten spricht, um die Korruption wieder loszuwerden. Deswegen bist du hier.«

Elyons Erwachen | Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt