7.3 Der sechste Monat

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Die Welt war wie ein leerer, weißer Raum. Das Rauschen des Windes und das Knirschen des Schnees unter ihren Pfoten übertönten alles andere, selbst ihre eigenen Gedanken. Erst als Elyon einem hohen Felsen, der ihr im Weg stand, ausweichen musste, war es, als hätte sie jetzt erst seit langem wieder einen klaren Gedanken. Als könnte sie endlich wieder ihre Umwelt klar wahrnehmen.

Und damit kamen auch die Fragen. Warum galoppierte sie so schnell? War es eine Flucht? Eine Jagd? Wo war sie überhaupt?

Elyon kam schlitternd zum Stehen und blickte um sich. Die Welt war gestochen scharf, auch wenn die Farben irgendwie falsch wirkten. Bräunlicher, gelblicher. Als sie hinter sich blickte, tauchte der hintere Teil eines schwarzen Wolfskörpers in ihr Sichtfeld auf. Dahinter zog sich eine lange Spur, die ihre vier Wolfspfoten hinterlassen hatten.

Jetzt fiel ihr alles wieder ein. Elyon hatte sich verwandelt. War aus dem stickigen Raum geflüchtet, nachdem Gustaf ihr über Aik erzählt hatte.

Elyon seufzte. Ihr Fell sah nicht natürlich aus. Es waren keine einzelnen feinen Haare, sondern leicht wabernde Schatten, als würde sie ein Nebel umgeben, der nur so tat, als wäre er Fell. Sie war in einer korrupten Wolfsgestalt. Schnell fühlte Elyon nach der Gabe in ihr, doch diese schien so mit ihren eigenen Gliedern, mit ihrem eigenen Blut verwoben, dass sie nicht danach greifen konnte. Ihre zweite Haut lag über ihren Körper wie ein gut sitzendes Kleidungsstück. Als wäre es ihr eigener. Anders als in ihren Lektionen mit Wotan, war es ein Leichtes, diesen Körper zu erhalten.

Die kalte Winterluft wehte Elyon entgegen, gemischt mit einem Duft von Tannen. Das endlose Weiß wurde hier und da von einer Gruppe Nadelbäume unterbrochen, oder einem herausragendem Felsen. Die Stadt war nicht zu sehen. Doch wenn Elyon ihre Schnauze hochhielt und in der Luft schnupperte, konnte sie die Wächterstadt riechen. Ein entfernter Geruch nach Rauch, Gestein und dem Schweiß von Menschen.

Ein Stich durchfuhr ihre Brust. Elyon wusste, dass sie zurückkehren musste. Sich mit den anderen zusammensetzen und einen Plan ausdenken. Eine Lösung für den Fluch finden. Und selbst wenn sie sich weigerte, wusste Elyon nicht, wann sie ihre Wolfsgestalt verlieren würde. Und in ihrem menschlichen Körper, würde sie hier nicht lange überleben können, nur mit ihrer Stadtkleidung und ohne ihre Sicht, in einer unbekannten Wildnis.

Doch Elyon konnte keine einzige Pfote bewegen. Als wären sie vereist. Elyons Körper zitterte. Nicht der Wolfskörper, ihr eigener, begleitet von einer schmerzenden Gänsehaut.

Ihre Gedanken wurden wieder träge, als würde etwas anderes sämtliche Willenskraft aus ihrem Kopf heraus saugen und sie davon abhalten, auch nur einen weiteren Augenblick dafür zu verschwenden, sich Sorgen zu machen.

Elyon seufzte und gab sich der Schwere hin, die sie überfiel und ließ ihre Gestalt in den Schnee herabsinken. Ihr Fell war nicht echt, doch es sorgte für Wärme und sie konnte sich beruhigt der Müdigkeit hingeben und ihre Augen schließen und wieder alles vergessen.

Für einen Augenblick fühlte es sich an, als wäre alles friedlich, als müsste sie sich um nichts Sorgen machen, bis eine Stimme ihre Ohren zum Klingeln brachte und jemand sie heftig schüttelte.

Elyon stöhnte genervt und weigerte sich, die Augen zu öffnen, doch als ein lautes Winseln die Stimme übertönte, schreckte sich auf. Kaum öffnete sie die Lider, fuhr eine warme Zunge über ihr Gesicht. Valka.

Elyon, Elyon!

Die Stimme der weißen Fähe drang in ihren Kopf hinein und vertrieb jegliche Schwermut der Korruption hinfort. Elyon schnappte nach Luft und saß zitternd da, umgeben von Schnee und Valkas schwerem Körper, während Finan keuchend dicht neben ihr saß, sein Gesicht vor Sorgen verzerrt.

Elyons Erwachen | Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt