5.2 Der vierte Monat

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Früh am nächsten Morgen kam Valka zu ihr galoppiert und schleckte Elyon ab, kaum dass sie einen Fuß auf den Gehweg vor Hildas Haustür gesetzt hatte.

Elyon lachte und kraulte ihre Ohren.
»Darf ich auf deinen Rücken sitzen? Und kannst du mich zur Höhle hinter der Siedlung bringen?«
Zunächst kam keine Antwort. Dann hörte sie durch den Schnee gedämpfte Tapsgeräusche, begleitet von einem fröhlichen Jaulen.

Laufen! Schnell!

Elyon nahm dies als ein Ja an und kletterte auf Valkas Rücken, die groß genug war, um Elyon tragen zu können. Und so wie sie die Fähe verstanden hatte, war sie noch nicht mal ausgewachsen. Als sie nach Valkas Alter gefragt hatte, hatte diese nur mit: »Noch nicht groß! Mehr wachsen!«, in Elyons Kopf geantwortet.

Sie legten den Weg in einem Drittel der üblichen Zeit zurück. Der kalte Wind fühlte sich wie Messerklingen auf ihrem Gesicht an, selbst mit dem Schal konnte Elyon sich nicht vor der eisigen Kälte der Oberge schützen.
Als sie den Höhleneingang erreichten, drosselte Valka ihre Geschwindigkeit und schritt munter durch den Gang.

Kampf?

Elyon runzelte die Stirn, dann horchte sie. Tatsächlich. Durch den Gang hallte ein Lärmchaos das aus Grunzen und Ächzen bestand, als würden sie gerade im großen Raum kämpfen. Dort angekommen, erkannte Elyon nur unscharfe Flecken, die ununterbrochen umeinander wuselten. Mitten unter ihnen war eine schwarz gekleidete Gestalt, die sich besonders schnell bewegte.
Ein abfälliges Lachen schallte durch den Raum. Wotans Stimme.

»Ihr schafft es alle gemeinsam noch nicht mal einen blinden Mann zu überwältigen? Was habt ihr in den letzten Wochen hier gemacht? Gefaulenzt?«, brüllte er voller Schadenfreude durch die Gegend. Mal stand er auf dem Boden, dann schwebte Wotan wieder kurz in der Luft, als würde er sich mit Flügeln hinauf schwingen. Die Gestalten um ihn herum ließen nicht von ihm ab, doch die Traube an Kämpfern wurde nach und nach lichter und einer nach dem anderen, egal ob Mann oder Frau, landete stöhnend auf dem Boden, während Wotan ihnen mit so einer Geschwindigkeit auswich, dass Elyon schwindelig wurde.

»Lächerlich! Und ihr wollt euch die besten Gestaltwandler in ganz Gerwenen nennen?«
Elyon wartete, bis kein einziger Wandler mehr stand, erst dann stieg sie ab und ging vorsichtig auf Wotan zu. Er keuchte leicht, während er in sich hineinlachte.

»Oh! Elyon! Du bist schon hier! Willkommen! Ich hab uns schon mal die Halle frei gemacht. Dann können wir ungestört unsere Lektion anfangen.«
Er bückte sich zu einer der liegenden Gestalten und zog sie hoch.

Das schmerzvolle Stöhnen klang nach Einars Stimme, der sie bis jetzt unterrichtet hatte. Falls man es überhaupt so nennen konnte.
»Nimm deine Gefolgschaft und zieh Leine!«, blaffte Wotan ihn an.
»Was zur eisigen Frostbeule ist nur los mit dir?«, rief eine Frauenstimme gepresst entgegen.

»Erwartet ihr ernsthaft, dass ich es akzeptiere, wenn ihr einen neuen Schüler wie die Pest behandelt? Elyon wurde von Hilda persönlich geprüft, sie hat ein Seelentier, sie hat eindeutig Talent. Was kümmert es, woher sie kommt? Oder habt ihr neuerdings etwas gegen Menschen mit Sehbehinderungen? Werde ich als Nächster wie Dreck behandelt? Oh, wartet mal kurz, Einar, wenn ich mich richtig an unsere Kindheit zurückerinnere, ist das ja bereits vorgekommen.«

Keiner sagte mehr ein Wort, selbst ihre Schmerzenslaute versuchten pressten sie nur noch durch geschlossene Lippen heraus. Langsam rappelten sich die ersten Wandler auf und hinkten in Richtung des Höhlenausgangs.

»Lasst euch das eine Lektion sein. Ihr solltet euch schämen für euer Verhalten. Sobald ihr euch erholt habt, trainiert ihr auf den Bergspitzen. Das kann nicht angehen, dass ich euch alle auf einen Schlag besiegen kann. Wie wollt ihr so gegen die Schattenkorruptionen ankommen?«

Elyons Erwachen | Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt