6.3 Der fünfte Monat

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Die Gralahalle befand sich im gleichen Gebäudeteil des Eispalastes, wo auch die riesige Bibliothek und die Gelehrtenzimmer waren. Finan erkannte die weißen Treppen, die sie am ersten Tag in der Wächterstadt erklommen hatten. Dieses Mal blieben sie direkt gegenüber den Treppen vor zwei riesigen Flügeltüren stehen, auf denen man aus hellem Birkenholz das Wappen der Gelehrten angebracht hatte. Dagmar, eine der Gelehrten, die sie ganz am Anfang kennengelernt hatten und ihre Gaben ausfindig gemacht hatten, öffnete ganz leise die linke Tür und bedeutete ihnen ihr zu folgen.

Die Halle war wie ein Hörsaal angelegt, sie standen gerade vor einer weiteren Treppe, links und recht befanden sich mehrere Reihe von Tischen und Stühlen, die kreisförmig nach unten immer enger wurden, bis sie vor einer Balustrade endeten, die sie von der runden Bühne ganz unten trennten. Jeder Sitzplatz war belegt mit Gelehrten aus allen Altersstufen, die alle wie gebannt auf zwei Männer starrten, die unten vor zwei Rednerpulten sich gegenüber standen.

Finan hielt die Luft an, als ihm fremdländische Kleidung ins Auge fiel. Links stand ein Mann, der einen weinroten Mantel trug, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Er konnte alleine schon den Stoff nicht bestimmen, noch hatte er jemals einen solch eleganten Schnitt gesehen. Der Mantel schmiegte sich elegant an den Körper des Mannes an und war vorne etwas kürzer geschnitten als hinten, wo der Stoff in zwei getrennte, kniekehlenlange Schleppen endete. Mehrere silberne Knöpfe schmückten nicht nur die Vorderseite des Mantels, sondern auch die vorderen Jackentaschen, die Ärmel und die Schulterklappen. Passend dazu trug der Herr blaue, eng geschnittene Hosen, die vorne und hinten eine senkrechte Falte hatten.

Ganz besonders hing Finan an den glatt polierten Stiefeln mit den metallenen Ösen für die Schnürsenkel. Der Mann hielt sich mit beiden Händen an den Seiten seines Pults fest und blaffte angeregt sein gegenüber an. Ein Mann mit pechschwarzen, glatten Haaren, einer sonnengebräunten Haut, gerötete Wangen und dünnen Augen ohne Lidfalten. Er trug ein langes Oberteil mit ausgefallenen Schulterausschmückungen, die wie Dornen aus dem glänzenden Stoff herausragten, sodass die Schultern des Mannes mächtig und breit wirkten. Der Stoff selbst war bunt verziert mit verschiedenen Mustern in Rot, Weiß, Grün, Gelb. Trotzdem wirkten sie alle wie ausgeklügelt geplant und gaben dem Mann das herrschaftliche Ansehen eines Königs.

Er trug sein schwarzes Haar offen, außer den zwei Strähnen, die er vom Unterhaar nach vorne gezogen hatte. Diese wurden von silbernen Ringen geschmückt, passend zu den silbernen glatten Münzen, gebunden an mehrere rote Lederbänder, um seine Stirn zu schmücken.
Beide mussten ungefähr so alt sein wie Wotan, wobei Finan es schwerfiel, die fremden Gesichtszüge einzuschätzen.

»Deine Rhetorik stimmt von vorne bis hinten nicht, mein lieber Freund!«, rief der kurzhaarige mit dem braunen Lockenkopf. »Diese Schriftstelle ist kein Beweis dafür, dass die Nachkommen eines Gottes ebenfalls die gleiche Göttergestalt trugen! Es gibt nur einen Gott, alle anderen Nachfahren sind Menschen!«

»Bevor du meine Ansichten mit deinen schwachen Argumenten kontern möchtest, schlage ich dir vor, deine Nase wieder in deine Bücher zu stecken, damit ich meinen Kopf wenigstens ansatzweise anstrengen muss! Ich hab noch mindestens zehn weitere Schriftstücke im Kopf, die meine These beweisen können!«
Finan warf einen fragenden Blick auf Dagmar, während die zwei Männer sich weiter anblafften.

»Beide sind theologische Gelehrte. James Harlow ist der Mann mit den Locken, Cheng der andere. James glaubt wie wir an Luoja, auch wenn man in seinem Land einen anderen Namen für Luoja hat: Dagboann. Cheng glaubt nicht nur an Luoja, den sie Shangdi nennen, sein Land hat noch weitere Nebengötter, die von Shangdi abstammen. Beide Männer kommen regelmäßig nach Gerwenen, um sich mit unseren theologischen Gelehrten auszutauschen und Diskussionen zu führen, welche Glaubensinhalte richtig sein könnten und welche nicht.«

Elyons Erwachen | Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt