5.1 Der vierte Monat

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»Lass es für heute einfach sein, Ausländerin«, blaffte Einar beim Vorbeigehen Elyon zu. »Alle anderen sind schon längst nach Hause gegangen.«

Elyon behielt ihre Augen geschlossen und konzentrierte sich auf ihren rechten Arm. Sie war nun schon seit zwei Wochen offiziell eine Schülerin der Gestaltwandler. Sie hatte jede Lektion aufgesogen wie ein Schwamm, konnte bereits ihre Hand für ein paar Augenblicke in eine Wolfspfote verwandeln und ihren Gehörsinn wie das von Valka schärfen. Dennoch wurde sie von den Lehrern und ihren Mitschülern wie ein ungebetener Fremdkörper behandelt. Jede Anweisung wurde schnell herunter gerattert und in einem abfälligen Ton gegeben.

Auch jetzt machte einer ihrer Lehrer, ein junger Mann ein abfälliges Geräusch und verließ die Trainingshöhle. Es war schon früher Abend und Elyon war nun ganz alleine in der riesigen Höhle, wo die Gestaltwandler ihre Lektionen abhielten. Diese befand sich tief in einem Berg. Sie war nicht gerne hier, da die Umgebung keinerlei Tageslicht hineinließ und sie durch Fackeln nur spärlich beleuchtet war.

Doch es war ihr nicht erlaubt woanders ihre neuen Fähigkeiten zu üben. Ihr Ziel war es, ihren Armstumpf zu einem Tierbein zu verwandeln. Da Valka ihr als Seelentier gleichzeitig auch ihre Fähigkeiten verlieh, fokussierte sie sich momentan darauf, es wie ein Wolfsbein aussehen zu lassen. Es kostete sie so viel Konzentration, dass Elyon in der ersten Woche jeden Tag stechende Kopfschmerzen bekommen hatte. Diese Woche ging es ihr schon besser. Nicht nur das, es kostete sie auch Körperkraft und Ausdauer. Elyon hatte seit langem wieder Muskelkater gespürt, wie damals als sie als Kind Schwertkampf gelernt hatte.

Jetzt wo die riesige Höhle still war, fiel es ihr leichter ihre ganze innere Aufmerksamkeit auf ihren Arm zu richten. Sie hatte nicht viel Zeit, um ihre Fähigkeiten zu üben, sie musste so schnell wie möglich wieder zurück zur Wächterstadt, um mehr über die Drachenkorruption zu lernen.

Ihr ganzer Körper verspannte sich, während sie versuchte ihren Armstumpf mit einem neuen Körperteil zu erweitern. Sie spürte die kribbelnde Wärme, die ihr anzeigte, dass etwas begann zu wachsen. Ein Druck baute sich in ihrem Kopf auf, ihre Stirn und ihre Nase begannen zu schmerzen und sie hatte das Gefühl, dass ihr gleich der Kopf platzen würde. Sie schob die kribbelnde Wärme weiter ihren Arm hinaus, als in ihr buchstäblich der Knoten aufplatzte. Die Wärme sprudelte aus ihrem Arm heraus. Elyon öffnete ihre Augen, ließ etwas von der Wärme darin fließen, um ihre Sicht zu schärfen und starrte einem brandneuen, mit fellbedecktem Arm entgegen.

Ihre Brust ging auf und Elyon konnte den Blick nicht mehr von dem Arm lassen. Sie biss sich auf die Lippen, um sich ein breites Grinsen zu verkneifen.
»Elyon! Hör sofort auf!«, hallte Hildas Stimme laut und streng durch die Halle.

Elyon schrak zusammen, sofort zerfloss die Kraft in ihrem Arm und ihre Augen und sie sah sich mit zusammengekniffenen Augen um, ohne Hilda sehen zu können. Ein stechender Schmerz schoss ihr durch den Schädel, der so heftig war, dass Elyon laut aufstöhnte und ihre Faust fest gegen die Stirn drückte.

»Elyon!«, rief Hilda, rannte auf sie zu und zog ihren Kopf hoch. »Verdammt, wie ich es mir dachte, du blutest.« Hilda murmelte wütend ein paar Worte vor sich, die Elyon nicht verstand, dann spürte sie ein raues Tuch vor ihrer Nase. Erst jetzt merkte sie den warmen Strom, der herausfloss, zusammen mit dem metallischen Geruch von Blut.

»Bist du völlig von Sinnen, Kind? Du kannst doch nicht einen ganzen Arm erstehen lassen, den du nicht hast! Weißt du, wie viel Kraft das kostet?! Noch etwas länger und du wärst ohnmächtig gewesen! Vielleicht sogar tot! Zum Glück hab ich nach dir gesucht.«

Hilda beugte Elyon im Sitzen leicht nach vorne und drückte ihre Nase mit dem rauen Tuch zu. Elyon atmete durch den Mund während Wellen von Schmerzen von ihrem Kopf aus ihren ganzen Körper durchdrangen. Sie waren so heftig, dass es ihr Tränen in die Augen trieb.

Elyons Erwachen | Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt