Nach einem späten Frühstück, waren Finan und Elyon mit den anderen verabredet, um über das zu sprechen, was zwischen Elyon und Jesko vorgefallen war. Bo Cheng und James waren Gäste im Eispalast und warteten auf sie in dem riesigen Foyer, das den Eingangsbereich des weißen Gebäudes ausmachte. Heute war der Raum noch voller als sonst. Das Gerede der Menschen war wie eine riesige Meereswelle, die auf Elyon herab prasselte. Selbst mithilfe der Echoortung fand Elyon sich nicht zurecht. Überwältigt von der Masse griff sie, ohne nachzudenken, nach Finans Ärmel. Dieser nahm sofort ihre Hand und legte sie um seinen Oberarm. Er führte sie zu den Treppen, wo James und Cheng sich angeregt mit ein paar Wächtern unterhielten, einer Frau und zwei Männern, in weißen langen Roben.
»Ah! Da seid ihr ja«, sagte James und Elyon begrüßte sie mit einem Beugen ihres Kopfes.
»Warum ist es hier heute so voll?«, fragte Finan.»Heute findet eine wichtige gerichtliche Anhörung statt«, erklärte Cheng. »Ein berüchtigter Verbrecher aus Gerwenen wurde gefasst. Er besitzt eine sehr starke und gefährliche Erdgabe. Die Geschichten seiner Untaten haben sich sogar im Goldenen Kaiserreich verbreitet.«
»Wird er zu Tode verurteilt?«, fragte Finan.»Oh nein, hier in der Wächterstadt gibt es keine Todesstrafe. Sie möchten jedem Menschen die Möglichkeit geben, ihr Leben wieder in bessere Bahnen zu lenken«, erklärte James. »Doch wenn sich die Straftäter nicht bessern wollen, werden sie in die nördliche Wildnis dem Urteil der Natur überlassen. Was so gut wie eine Todesstrafe ist, selbst wenn man sehr starke Gaben besitzt.«
Elyon wollte fragen, wieso der Norden so gefährlich war, als der ganze Raum in Stille verfiel.
»Hier kommt er«, wisperte Cheng.Die Türen wurden aufgerissen. Kräftige Schritte hallten durch den Raum. Elyon vermutete mindestens zehn Wächter. Sie versuchte mit der Echoortung den Verbrecher ausfindig zu machen, doch es waren zu viele Menschen um sie herum. Die Gruppe lief durch den Eingangsbereich und als sie direkt vor ihnen vorbeimarschierten, schnappte Finan nach Luft.
Elyon sah zu ihm auf und für einen kurzen Augenblick, griff sie auf ihre Gabe zurück, mit der sie sich Vinjas Sehkraft borgte. Finans Gesicht war vor Schreck erstarrt, als hätte er ein Ungeheuer gesehen.
Ein stichartiger Druck baute sich in Elyons Augen auf und sie ließ von ihrer Gabe ab.
Langsam breitete sich aufgeregtes Wispern im Eingangssaal aus.
»Finan?«, fragte Elyon und sie tastete nach seinem Arm.
Doch Finan drehte sich von ihr weg.»Warum hatte der Mann ein blau tätowiertes Ohrläppchen?«, fragte er und obwohl sie hörte, wie er versuchte seine Stimme unter Kontrolle zu behalten, war das Zittern trotzdem noch da. Sein Arm spannte sich an unter ihrem Griff an.
Da tauchte eine Erinnerung auf und Elyon wusste sofort, warum er fragte. Ein Gefühl wie eine eiskalte Hand packte ihr Herz und zerdrückte es. Aik.
»Das ist eine lange Tradition hier in Gerwenen. Alle, die sehr üble Verbrechen begangen haben und als große Gefahr für andere gelten, werden so markiert«, erklärte James, seine Stimme klang verwundert.
Elyon schluckte schwer und packte Finans Mantelärmel umso fester.»Selbst wenn sie sich die Ohrläppchen abschneiden, wissen trotzdem alle in Gerwenen Bescheid, dass es sich um jemanden gefährliches handelt. Wieso? Finan, du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!«, sagte Cheng. »Ist alles in Ordnung?«
Finan stieß eine ganze Reihe an deftigen Flüchen in ihrer Muttersprache aus.
»Das klingt gar nicht gut. Was ist los?«, fragte James.
»Wir sind jemanden aus Gerwenen in Rovis begegnet. Er hat ebenfalls ein blau tätowiertes Ohrläppchen.«Stille. Die Last des Schweigens war so schwer, dass sich die Luft um sie herum stickig anfühlte. Elyon schluckte wieder schwer und zwang sich dazu, endlich Finans Ärmel loszulassen.
»Das ... klingt eigentlich unmöglich. Alle Wege ins Kaiserreich sind unpassierbar«, wisperte Cheng.
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Elyons Erwachen | Band 2
FantasyNach Elyons Sieg über den Urdrachen und Nevins Festnahme, reist Elyon in Begleitung von Nevins kleinem Bruder Finan in den Verbotenen Osten. Dort wird sie hoffentlich mehr über den Fluch, ihren seltsamen, übernatürlichen Fähigkeiten und ihre Herkunf...