1 ~ Romero

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Romero lag in seinem Bett und starrte an die Decke. Er sah dem Streifen aus Licht dabei zu, wie er langsam, Zentimeter für Zentimeter, über den Putz kroch. Er ließ seinen Blick den Streifen entlang wandern, bis zu dessen Ursprung. Zwischen seinen nachlässig zusammengezogenen Vorhängen kämpften sich das erste Licht des Tages ins Zimmer. Auch wenn der Sommer sich bereits dem Ende neigte, hatte die Sonne noch einiges an Kraft. Es würde ein warmer Tag werden. Der Stoff schien zu glühen, und in dem wenigen Licht, das ungefiltert seinen Raum erhellte, tanzten unzählige Staubkörnchen. 

Seine Augen wandten sich wieder nach oben. Mittlerweile wurde die Lampe, die schräg über seinem Kopf von der Decke hing, beleuchtet. Romero stutzte kurz, und kniff dann die noch müden Augen zusammen, um besser zu sehen. Zwischen den einzelnen Teilen der kreativen Designleuchte verliefen plötzlich Striche, die dort nicht hin gehörten. Erkenntnis huschte über sein Gesicht - ein Spinnennetz! Gestern war dort noch nichts gewesen, und jetzt schien es schon fast fertig zu sein. Er dachte darüber nach, das Netz später zu entfernen, aber  irgendwie fand er Gefallen daran, wie die Strahlen der Morgensonne die einzelnen Fäden zum Glitzern brachten. Außerdem würde es der Spinne vielleicht gelingen, die nervige Gelse zu fangen, die ihn seit ein paar Nächten heimsuchte. 

Früher hatte Romero einen tiefen Schlaf gehabt, und mehrere Wecker benötigt, um sich aus dem Bett zu quälen. In den letzten Jahren hat sich dies jedoch verändert. Sein Schlaf wurde leichter, und auch kürzer. Eine Zeit lang hatte er es auf den neuen Stress geschoben, aber selbst an Tagen, an denen es theoretisch ginge, konnte er nicht mehr ausschlafen. Es war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, im Zwielicht der Dämmerung aufzuwachen, kurz vor Sonnenaufgang, er konnte nicht mehr anders. 

So war er vor allem jetzt, in der warmen Hälfte des Jahres, weit vor dem Läuten seines Weckers wach. Seine Familie jedoch schlief noch, und so lag er oft einfach nur da, und wartete darauf, dass der Tag für alle begann. Diese Augenblicke waren ihm die liebsten des ganzen Tages. Wenn er sich hinter dem Schleier des Schlafes verstecken konnte,  und noch nicht unter der strengen Beobachtung des Rudels stand. Noch nicht beurteilt wurde, noch nicht gehorchen musste, noch keine Erwartungen zu erfüllen hatte. Diese Augenblicke gehörten nur ihm - und seit neustem diesem lästigen Insekt. Er hörte es surren, momentan unerreichbar hinter seinem schweren Schrank. Mit einem leisen Schnauben warf er einen wütenden Blick in Richtung des Möbelstücks. Es war entschieden, die Spinne durfte erstmal bleiben. 

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In dieser Zeit der äußeren und inneren Ruhe dachte er am liebsten zurück an seine Kindheit. Als er und sein Zwilling noch unzertrennlich gewesen waren, und dachten, es würde ewig so bleiben. 

Ein kleines Lächeln formte sich auf seinen Lippen, als er ihr altes Versteck im Wald in Gedanken vor sich sah. Die Äste, mit denen sie eine 'Burgmauer' vor den Eingang der kleinen Höhle gebaut hatten. Der Vorrat an Dosenfleisch in der hintersten Ecke, falls sie sich mal ein paar Tage vor den Erwachsenen verstecken mussten. Und die hässlichen Zeichen, die sie mit ihrem Blut an die Wand gemalt hatten, um den Schwur zu besiegeln, ewig zusammen zu halten. Sie beide gegen den Rest der Welt. 

Von einer plötzlichen Traurigkeit überrollt drehte Romero sich zur Seite, und umarmte seinen Kopfpolster. Natürlich war es anders gekommen. Jetzt war er, der kontaktscheue von ihnen beiden, dazu bestimmt der nächste Alpha zu werden. Andrino hingegen, der perfekt für diese Rolle geschaffen wäre, musste sich ihm als einer seiner Betas unterordnen. 
Mit jedem Jahr, das seither vergangen war, hatten die Angst, die Enttäuschung und der verletzte Stolz die beiden weiter voneinander entfernt.

Wie immer, wenn seine Gedanken in diese Richtung abschweifen, verspürte Romero den vertrauten Schmerz tief in seiner Seele, den die Ablehnung seines Bruders ihm gegenüber verursachte. Und er schämte sich dafür, dass er - als künftiger Alpha, der Friedensabkommen mit fremden und vermutlich sogar aggressiven Rudeln schließen und erhalten wird müssen - nicht einmal mit seinem eigenen Zwilling das Kriegsbeil begraben konnte. 
Stöhnend vergrub er sein Gesicht tief im Polster. Daran wollte er jetzt nicht denken. Er wollte ruhige und friedliche Gedanken haben, bevor ... 

Rrriiiiiiiing!!!!
Zu spät - der Wecker läutete das Ende seiner Schonfrist ein. Ergeben stemmte Romero sich auf, um dem nervigen Ton den Gar aus zu machen. Dann rappelte er sich auf, streckte die knackenden Knochen, und nickte einen morgendlichen Gruß in Richtung der Lampe.
Zeit sich dem Leben zu stellen, so sehr er es momentan auch verabscheute. 


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1. Fassung: 18.09.2021
Überarbeitet: 14.09.2022

200 Reads: 20.01.2023    🤍

Ein Alpha und sein Omega         (Whiskerton #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt