Um Sprechen zu können, nutzen Menschen über 100 Muskeln in Lunge, Kehlkopf und Mundbereich.
Kurz hielt Nino inne, und las den eben geschriebenen Satz noch einmal. Dann strich er Lunge durch, und schrieb Brustkorb darüber. Sonst wäre ja die Zwischenrippenmuskulatur nicht erfasst, und die war beim Atmen notwendig. Gut, dass die Lehrerin gerade nach hinten in den Fachbereichsraum gegangen war, um etwas zu holen, so musste er sich bei seiner Korrektur nicht allzu sehr beeilen.
Beim Versuch eine Seite zurück zu blättern, um zu prüfen, ob er Aphasie auch jedes mal korrekt geschrieben hatte, schnitt er sich die Fingerkuppe am Papier auf. Der kurze Schmerzreiz kam überraschend, und er konnte nicht verhindern, dass er den nächsten Atemzug etwas zu schnell und tief einsog. Nichts, was die Menschen neben ihm bemerken würden, aber da gab es ja noch die Wölfe.
Und tatsächlich, schon fühlte er sich wieder beobachtet. Wie schon öfters in dieser Woche. Einfach ignorieren, und nicht auffallen, dann wirst du gleich wieder uninteressant, redete er sich in Gedanken gut zu. Ein kleiner Blutstropfen formte sich auf seinem Finger, und in Ermangelung eines Taschentuches lutschte er ihn ab. Bäh! Schmeckte total nach den Gummihandschuhen, die er vorhin getragen hatte. Richtig widerlich.Da kehrte auch schon Frau Karmeier zurück, beide Arme voller ... Köpfe?
Was im ersten Moment ein wenig befremdlich wirkte, war im nächsten bereits wieder amüsant, und in den Reihen hinter ihm wurde gekichert. Was sie in Ermangelung ausreichender Arme nun ein wenig unelegant auf ihrem Tisch aufreihte, waren Modelle des menschlichen Stimmapparates aus unterschiedlichen Materialien und in verschiedenen Abstufungen von Detailreichtum.
Das strenge Aussehen von Frau Karmeier hatte bei seiner ersten Begegnung mit ihr dazu geführt, dass er sie für eine unangenehme und anstrengende Lehrperson gehalten hatte. Was sie in manchen Fällen, besonders bei Prüfungen, auch sein konnte. Mit der Zeit war ihm aber klar geworden, dass dieser Mensch eine große Leidenschaft für ihr Fachgebiet in sich trug, die sie erstaunlich gut rüberbringen konnte. Wenn sie so wie jetzt ihre Modelle auspacken, und ihren Schülern 'Fun Facts' und 'Insiderwissen' zu den Funktionen der verschiedenen Körperteile präsentieren konnte, dann blühte sie auf, und die ganze Klasse schenkte ihr Aufmerksamkeit. Ein Phänomen. Und so war es auch jetzt.Naja, nicht ganz. Ein frustriertes Knurren hinunterschluckend zog er seinen Kopf ein, und versuchte sich auf seine Mitschrift zum Vortrag zu konzentrieren, und nicht auf die Blicke von Romero und seinem Schatten Rem, die sich in seinen Hinterkopf brannten. Romero und Rem. Rom und Rem. Romulus und Remus. Unbemerkt von den hinteren Sitzreihen umspielte ein amüsiertes Grinsen seine Lippen. Warum war ihm das bisher entgangen?
Aber irgendwie schien dieser Gedanke nicht ganz zu passen. Es stimmte schon, dass Nino kaum jemals am Rudelleben teilnahm, aber er war weder taub noch verblödet. Er konnte sie hören, wenn sie in der Schule über interne Angelegenheiten sprachen, sobald die Menschen außer Hörweite waren. Und er war sich sicher gewesen, mitbekommen zu haben, dass Romero der Zwilling war, dem Respektbezeugungen und Hierarchie eher egal waren, während sein Bruder doch Wert darauf legte. Konnte es sein dass er sich geirrt hatte? Das es genau anders herum war? Anfangs, vor dem ganzen Drama, hatte er sie ja auch nie unterscheiden können.
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Der Weg nach Hause war Nino diesmal länger vorgekommen als sonst. An den meisten Tagen fiel ihm gar nicht auf, wie weit weg vom Schuss ihr Haus lag.
Sie waren die einzigen Rudelmitglieder, die außerhalb der Stadt wohnten. Als sie damals einzogen, hatte er gefragt, ob es ihnen erlaubt worden war, oder ob sie sich heimlich eingeschlichen hatten. Bisher hatten sie schließlich auch ohne Rudel gelebt gehabt, und die überstürzte Abreise gefolgt von den Tagen im Wald und unter Brücken, war im wie eine Flucht vorgekommen. Aus seiner kindlichen Perspektive erschien ihm die Frage damals logisch. Doch obwohl das Verhältnis zu seinen Eltern damals, vor seinem Erwachen als Omega, noch ein besseres gewesen war, war die einzige Antwort die er je auf diese Frage erhalten hatte, eine kräftige Ohrfeige gewesen. Aber da sie alle drei mit anderen Kindern des heimischen Rudels die Schule besuchten, lag es bald auf der Hand, dass diese wohl von ihrer Existenz wussten.
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Ein Alpha und sein Omega (Whiskerton #1)
WerwolfEin etwas zu unsicherer Alpha, und ein unerwartet sturer Omega. Wo kann das nur hinführen? Laufend/ langsame Updates (aktuell Blockade im Hirn, sorry) 1000 Reads am 28.03.2023 2000 Reads am 27.12.2023