8 ~ Nino

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Nino lieferte mit letzter Kraft die Bücher bei Miss Marple ab, kurz bevor diese nach Hause ging. Auch wenn ihm der Gedanke zuwider war, musste er sich eingestehen, dass er dies ohne die Hilfe von Romero nicht geschafft hätte. Ins Gebäude hatte er den Karton noch irgendwie schleppen können, aber sobald er sich außer Sichtweite wusste, hatte er ihn nur noch durch die Gänge geschoben. Für die Plackerei die Treppen nach oben hatte er eine gefühlte Ewigkeit gebraucht. Die Bibliothekarin hatte ihre Nase so stark gerümpft, dass ihr dabei das Atmen schwer gefallen war - mit seinem guten Gehör war ihm das sofort aufgefallen - und ihm mit tadelndem Blick die Bücher entrissen. Vermutlich wäre es ihr am liebsten gewesen, jedes einzelne davon am Silbertablett serviert zu bekommen. Pfff. Soll sie sich ihre heiligen Schätze doch künftig selbst abholen gehen. 

Er war jetzt am Heimweg. Mit schnellen Schritten folgte er der Straße, die an der Stadtgrenze entlang führte. Normalerweise bevorzugte er den Weg im angrenzenden Waldstück, wo er die kleinen Tiere beobachten und sich ein wenig ins Gras setzen konnte, aber die Zeit blieb ihm heute nicht mehr. Sobald er angekommen war, müsste er sich schnell waschen und umziehen, und anschließend möglichst viele der anstehenden Hausarbeiten erledigen, bevor die anderen nach Hause kamen. 

Prüfend schwenkte Nino seine Arme vor und zurück, spannte sie an und lies wieder locker. Seine Muskeln waren von der Anstrengung eben immer noch beleidigt, und schmerzten ihn. War er so überhaupt in der Lage, die Betten ordnungsgemäß und in vertretbarer Zeit neu zu beziehen? Vorsichtig massierte er sich den linken Oberarm. Es würde unangenehm werden. Aber morgen, mit dem zu erwartenden Muskelkater, wäre es fast unmöglich. Emotional ermüdet seufzte er auf. Seine körperliche Schwäche wurmte ihn. Er war zwar schon stärker geworden, seit er in der Schule für Hausmeister Jeff arbeiten musste, aber das war mit dem Gewicht der wenigen Putzmittel, die ihm zur Verfügung standen, begrenzt. Er nahm sich vor, ab sofort heimlich mit ein wenig schwereren Dingen über längere Distanzen oder Zeiträume hinweg zu trainieren. Zum Beispiel könnte er bei den Hausarbeiten daheim anfangen einen mit Wasser gefüllten Topf mit sich herum zu tragen. Ihm würde schon etwas einfallen. Die Blöße von heute wollte er sich kein weiteres Mal geben.

Zu seiner linken hörte das Wäldchen plötzlich auf, und wurde von Feldern abgelöst. Sobald alles abgeerntet war, würde man dahinter die Dächer seiner Nachbarschaft erkennen können, aber noch versperrten ihm Maispflanzen die Sicht. Zwischen dem zweiten und dritten Feld tat sich ein Feldweg auf, der breit genug für die kleinen Traktoren der ansässigen Bauern war. Für Autos war er die meiste Zeit des Jahres nicht geeignet, weil das Wasser aus den Bewässerungsanlagen der Felder die Erde in den Spurrinnen zu gatschigen Sümpfen machte. 
Nino war das egal. Er bog auf den Feldweg ab, und schritt den spärlich mit Grasbüscheln bewachsenen Mittelstreifen entlang, der noch einigermaßen trocken war. Der erdige Boden fühlte sich unter seinen Füßen viel besser an, als der harte Asphalt. Von diesem angenehmen Empfinden beschwingt begann er leicht zu joggen.

Um nicht an die anstehenden Arbeiten zu denken, bevor er sich wirklich damit beschäftigen musste, ging Nino lieber nochmals seinen Plan zum heimlichen Training durch. Mit den Gerätschaften in 'seinem' Schupfen konnte man bestimmt Gewicht heben imitieren. 
Seine Eltern durften nur nicht auf die Idee kommen, dass er dies tat, um sich zur Wehr setzen zu können. Ihm war durchaus bewusst, dass ihm dafür die physische Veranlagung fehlte, aber die beiden konnten in der Hinsicht ziemlich paranoid werden. Wobei, ... nicht nur in der Hinsicht. Manchmal, wenn er mal die Gelegenheit bekam ein bisschen zur Ruhe zu kommen, und über sein Leben nachzudenken, fragte Nino sich, wieso und wann der Verfolgungswahn seiner Eltern wohl entstanden war - aber meistens war er sich sicher, es gar nicht so genau wissen zu wollen. 

Bald darauf erreichte er auch schon die kleine Ansammlung an Häusern, die in der näheren Umgebung des "Dorfplatzes" verstreut in der Gegend herumstanden. Für die Vögel, die hier vorbei flogen, war es bestimmt ein lustiger Anblick - die roten und schwarzen Dächer, die scheinbar wahllos zwischen den Hecken, Obstbäumen und Gartenteichen auftauchten.  

Ein Alpha und sein Omega         (Whiskerton #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt