Pearls {Minsung}

💠Shore💠

Das Rauschen des Meeres, das Brechen der Fluten entlang der Brandung, die Klippen und der Wind, welcher seine Haare zerzausten und ihn frösteln ließen, weckten etwas in ihm. Er hatte das Gefühl diese Aussicht schon einmal gesehen zu haben, dabei war das völliger Irrsinn. Jisung hatte in seinem ganzen Leben noch nie einen Klippenhang betreten.
"Beeindruckende Aussicht, nicht wahr?"
Jisung zuckte unweigerlich zusammen, nachdem die Stimme ertönte. Er war so sehr auf den Ozean und die Geräusche der Natur fixiert, dass er weder die Schritte im Gras noch sonst irgendwas wahrnehmen konnte.
Eine Gestalt trat neben ihn, beobachtete die gleiche Szenerie wie er, nur sah er wahrscheinlich etwas komplett anderes.
"Wie Kennedy einmal sagte: Wir sind an den Ozean gebunden. Und wenn wir zurückgehen, egal ob zum Segeln, zum Schwimmen oder zum Staunen - gehen wir dahin zurück, wo wir hergekommen sind."
Jisung wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte, doch es passte irgendwie hierher. Zum Glück regnete es nicht mehr, obschon das nasse Gras langsam aber sicher seine Schuhe durchweichte.
Der Blonde betrachtete den Neuankömmling von der Seite. Es war von der Hand zu weisen, dass er eine Sirene war, was ihn fragen ließ, warum er gerade, zur selben Zeit, in der Mittagspause, wie Jisung, hierher kam. Dabei wollte der Blonde nur Luft schnappen, wirklich bewundern, tat er den Ozean nicht. Gut, das hier war öffentliches Gelände, aber sollte sein Nachbar nicht eigentlich den Kontakt zu ihm meiden?
Jisung wich überrascht zurück, nachdem der Größere ihn ansah. Seine Iriden hatten die gleiche Färbung, wie die von Minho. Nur das seine Ausstrahlung eine vollkommen andere war. Er wirkte auf ihn nicht so beängstigend, wie die Sirene, welche ihm am ersten Tag gesagt hatte, er solle verschwinden. Wenn er den Älteren so von oben bis unten betrachtete, schien sein Oberteil viel zu knapp, sodass man einen kurzen Blick auf seine Bauchmuskeln werfen konnte, weswegen sich der Blonde innerlich schellte, dass er darüber nachdachte. Fror die Sirene nicht? Bis ihm einfiel, dass die Wesen Minusgrade gewöhnt sein mussten. Doch er strahlte auch dieses gewisse Etwas aus, bei dem man nicht anders konnte, als sich ihm öffnen zu wollen und das empfand Jisung beängstigend. Dunst begann mit einem Mal von der Klippe emporzusteigen, feucht und undurchdringlich, wie Bügeleisendampf. Jisung wusste, dass sein Gegenüber die Finger im Spiel hatte. Wohl eher seine Magie. Was er damit bezwecken wollte, war ihm jedoch unklar.
"Han Jisung, freut mich sehr! Ich habe viel von dir gehört."
Der Blonde legte den Kopf schief und versuchte die Information von dem Schwarzhaarigen herauszukristallisieren, die diese Nachricht implizierte. Das hier war sein erster Tag. Die Sirene konnte ihn nicht kennen. Das schien der Größere auch zu merken, denn seine Gesichtszüge entglitten kurzzeitig und er biss sich auf die Unterlippe.
"Chan!"
Jisung wirbelte herum und blickte in das Gesicht eines Supermodels. Zwar lächelte die Sirene nicht, als er ihn sah, doch auch so strahlte diese Person Ewigkeit und Tod aus. Er leuchtete, wie das Innere eines Vulkans. Dunkel und düster und trotz dessen atemberaubend, wie die Magma selbst.
Wie konnte es sein, dass jede verdammte Sirene und Meerjungfrauen fantastisch aussah, als seien sie gerade einem Bildnis göttlicher Vollkommenheit entsprungen?
Ohne ihn eines letzten Blickes zu würdigen, ging er und ließ einen verdutzten Jisung zurück. Der Blonde wagte einen Blick hinaus aufs Meer. Hier war doch keiner wirklich gesund im Kopf.
"Jisung!"
Felix kam angerannt und strahlte, wie schon die ganze letzte Zeit diese Fröhlichkeit aus, dass Jisung sich fragte, ob vielleicht die Energie des Blonden reichte, um dem Schloss ein bisschen mehr Leben einhauchen zu können. Er starrte zu dem dunklen Gebilde hinauf, wo sich neue düstere Wolken aufzogen.
Nope, vergebene Mühe.
"Was machst du denn noch hier? Die nächste Stunde fängt gleich an und wir müssen durch das halbe Gebäude!", quasselte der Meermann drauflos und zerrte Ihn an seiner Jacke mit sich. Die Begegnung mit der Sirene hing ihm noch immer im Gedächtnis. Was meinte er damit?
"Willst du mal was richtig cooles hören?", fragte Felix und lächelte ihn an. Merkten die anderen, dass er hier nicht sein wollte? Dass all das hier einem Gefängnis glich?
"Klar, hau raus."
Sie liefen gerade durch die Gänge, als es zu Donnern begann. Der Himmel lieferte sich einen Kampf. Zwischen Regen und Blitzen herrschte eine ewige Fede, so erschien es Jisung, wann immer sie an einem der riesigen rundbögen Fenster vorbeischritten.
"Es gibt eine uralte Legende hier, die so alt ist, wie das Dorf selbst. Du kennst doch sicherlich den Leviathan, oder?"
Jisung nickte langsam, während sie weiter im Stechschritt durch die Gänge jagten, um noch rechtzeitig zum Unterricht zu kommen. Es schickte sich nicht, am ersten Tag zu spät zu kommen, und zu seiner Überraschung hatte er es die letzten sechs Stunden geschafft pünktlich zu sein.
Sie streiften gerade ein weiteres Fenster, als der Blonde etwas im Augenwinkel bemerkte. Fünf Sirenen, zwei männliche Geschöpfe und drei Weibliche steuerten, bis an die Zähne bewaffnet, auf den Wald zu. Offensichtlich war er stehen geblieben, denn Felix kam zurück und zerrte Ihn von Neuem hinter sich her. Er wollte schon zu einer Frage ansetzen, da widersprach der Meermann ihn.
"Der Leviathan soll ein kosmisches Seeungeheuer aus der jüdischen Mythologie gewesen sein. Ein Monster bestehend aus den Zügen von Krokodil, Drache, Schlange und Wal! Beeindruckend nicht?"
Kurz fuchtelte der Größere mit seiner Hand durch die Luft. Jisung indes wanderte ins Grübeln. Mit einem Ohr hörte er seinem Zimmergenossen zu, wobei er mit dem anderen überlegte, was seine Augen da eben registriert hatten.
"Jedenfalls gehe ich nicht davon aus, dass es den wirklich gibt, aber die Menschen im Dorf huldigen einer Meeresgottheit. Ein riesiges Wesen aus längst vergangener Zeit! Es soll so mächtig sein, dass es ganze Heerscharen von Göttern niederwalzen könnte! Unglaublich, oder?"
Jisung musste über die ständige Bestätigung, welche Felix scheinbar unbewusst suchte, schmunzeln.
"Laut der Legende soll das Ungeheuer unter dem Internat im ewigen Schlaf liegen! Wahnsinn!"
Jisung lachte und stimmte dem Blonden zu.
"Ein schönes Märchen, da schlottern mir ja gleich die Knie!"