💠Fall💠

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Jisung verlor mit jeder Sekunde mehr von seinem Zeitgefühl. Die letzten Stunden waren die Hölle gewesen. Nach dem Angriff dieses Wesens und der Rettung durch Ha-Yoon, wo der Blauhaarige noch immer nicht wusste, wie sie das geschafft hatte, ließen die Rektorin und Lehrer anordnen, dass die Schüler sich umgehend in ihre Zimmer zurückziehen sollten. Das war nun mindestens zehn Stunden her und Jisung hatte kein Auge zugetan. Die Zähne des Geschöpfes hingen, fest verankert, in seinem Kopf. Was wollte die Schlange? Wo kam sie her? Wieso hatte Jin-Ae ihn gerettet? Fragen über Fragen. Die Cafeteria wurde bis auf weiteres gesperrt. Die Polizei rückte an und wollte aufgeklärt werden über die Geschehnisse. Das einzig Positive an der Sache war, dass sie keine Toten zu beklagen hatten. Einige Schüler zierten Schürf- und Platzwunden, gestauchte Knöchel oder blaue Flecken. Niemand war ernsthaft verletzt. Und das erleichterte Jisung, obwohl die Gliederschmerzen ihm das Laufen erschwerten. Die Platzwunde an seinem Kopf wurde von einer fähigen Sirene zusammengeflickt, sodass ihm nun ein Pflaster an der oberen Hälfte der linken Stirn zierte. Ein Klopfen zerrte Ihn zurück in die Realität, während er gerade Gayas Haar flocht.
Seungmin ging zur Tür und öffnete diese. Hyunjin erschien in seinem Blickfeld, die Stirn in Falten gezogen, wobei der Blauhaarige beobachtete wie die Sirene dem Braunhaarigen ein schüchterndes Lächeln schenkte. Seungmin ignorierte ihn. Felix stattdessen rannte auf den Schwarzhaarigen zu und zog ihn in eine Umarmung.
"Die Rektorin möchte, dass alle Schüler sich auf den Klippenhängen versammeln. Eine Ankündigung steht an."
Jisung ahnte schon, was diese beinhaltete.
"Wir kommen sofort", antwortete Jeongin und hievte sich aus seinem Bett. Der Blauhaarige stand ebenfalls auf. Gaya sagte ebenfalls zu, was sie alle überraschte.
"Frische Luft tut gut."
Der Mensch starrte aus dem Fenster. Düstere Wolken verdunkelten den Tag, tauchten alles in ein melancholisches Tief, welches über sie hinwegschwebte. Der Herbst begann seine Arme auszustrecken, veränderte die Umgebung zu seinen Zwecken, bereitete sie auf den Winter vor.
Jisung seufzte. Er mochte die Kälte nicht.
Geschlossen traten sie auf den Gang, nachdem sie sich warm angezogen hatten. Obwohl es eigentlich nur Jisung tat. Der Rest war resistent gegen die Kälte und das Wetter, welches draußen herrschte.
"Bist du in Ordnung?", ertönte Minhos Stimme, hinter ihm. Jisung zuckte zusammen. Die anderen gingen fröhlich weiter und merkten nicht einmal, dass der Mensch stehen geblieben war. Sollte ihm recht sein, somit konnte er ungestört mit der Sirene sprechen. Er wirbelte herum.
"Ich dachte, du seist abgehauen", konnte sich der Blauhaarige nicht verkneifen. Unmittelbar danach biss er sich auf die Innenseite seiner Wange. Minho sah scheußlich aus. Sein eingefallenes Gesicht, die dunklen Augenringe, er musste Tage nicht geschlafen haben. Die Blässe, welche sich in seine Haut zu graben schien, untermauerte seine Annahme nur.
Sein Gegenüber blieb still.
"Solltest du nicht bei deiner Freundin sein?", fragte er und klang schnippischer als beabsichtigt. Eigentlich wollte er die Sirene nicht so angehen, dass hatte er nicht verdient. Andererseits war ein klitzekleiner Teil in Jisung sauer auf den Braunhaarigen, nein, sauer auf Jin-Ae. Und diese Erkenntnis, welche er daraus schloss, machte ihm Angst, große Angst. Er war eifersüchtig.
Han Jisung war tatsächlich eifersüchtig.
"Ich kann sie nicht ansehen, ich kann das alles nicht. Nicht nochmal durchleben. Ich-"
Die Sirene verstummte. Bevor Jisung seine Hand nach ihm ausstrecken konnte, verschwand der Braunhaarige.

Er fühlte sich elend.
Noch schlimmer, als zu Beginn des Tages. Minhos Worte wollten nicht aus seinem Kopf verschwinden, sie blieben einfach da und drehte ihre Kreise, wie bei einem Roulette-Spiel. Er seufzte, was Seungmin dazu brachte, zu ihm zu schauen.
Sein Blick sprach Bände.
Alles okay?
Jisung nickte. Dem Meermann jetzt zu erklären, was gerade im Gang vorgefallen war, würde seine Nerven zum Explodieren bringen. Stattdessen zuckte er die Achseln und wandte sich der Rektorin zu, die auf einem Podest stand. Gemeinsam sammelten sich die Schüler, als Traube vor ihr. Parallel zu ihnen befand sich der Klippenabhang, der ihnen gefährlich nahe war.
Irgendwer könnte runterfallen.
"Liebe Schüler, liebe Lehrer, das Geschehnis des letzten Tages tut mir aufrichtig leid. Ihr habt alles Recht sauer oder verängstigt zu sein. Ich habe ein zweites Mal versagt auf euch, meine Schäfchen, aufzupassen."
Ihre Augen spiegelten ehrliche Trauer wieder.
"Das Wesen sollte es eigentlich nicht geben, zumindest nicht in dieser Zeit. Meine Mitarbeiter versuchen auf Hochtouren herauszufinden, woher es stammt und wieso es hierhergekommen ist. Ich erhöhe die Sicherheitsmaßnahmen, jedoch steht es jedem frei, dieses Gelände zu verlassen, falls er oder sie sich nicht sicher fühlen sollte."
Keiner der Anwesenden äußerte sich. Jisung erinnerte sich an Felix' Aussage. Manche hatten nichts außer dieses Internat.
Das war ihr Zuhause. Ohne auf Antwort zu warten, fuhr Frau Young fort:
"Die Cafeteria bleibt bis auf weiteres geschlossen, deswegen wird die Turnhalle zweckentfremdet und dient nun als Aufenthaltsort zum Essen und Lernen."
Sie nickte noch einmal, dann trat sie zurück.
Ein Schrei, der unmittelbar neben dem Blauhaarigen ertönte, ließ ihn herumfahren.
Jin-Ae drohte von der Klippe zu fallen.

Jisung reagierte ohne nachzudenken, schoss mit der Schnelligkeit eines Geparden auf sie zu, griff ihre Hand und nahm den Schwung, welchen er inne hatte und wechselte ihre Positionen. Der Mensch riss die Augen auf, als er realisierte, was er getan hatte, sah das Entsetzen in Seungmins und Felix' Augen.
Doch es war Jin-Aes Blick, der ihn bis ins Mark erschaudern ließ.
Sie grinste und ihre Augen waren nicht mehr golden, sondern schwarz. Tief schwarz, wie die dunkelste Ecke der Hölle.
Und dann fiel Jisung.
In diese bodenlose Schwärze, deren Felsen ihn am Ende des Falls zerbersten lassen würden. Trotz dessen der Wind von unten gegen seinen Rücken fegte, wurde er nicht langsamer. Wenn er so darüber nachdachte, hatte er diese Situation verdient. Die Spinnen verloren ihre Chance, die Schlange ebenfalls und jetzt würde er aufgespießt werden, von Felsen, die älter waren, als er es jemals sein könnte. Das würde die Bezahlung für seine Sünde sein, welche er seit sechs Jahren mit sich trug.
Dies war der Tag der Abrechnung.
Doch Jisung fühlte sich seltsam befreit deswegen. Erleichterung durchflutete ihn, ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.
Er dachte an ein Zitat von Walt Whitman:
There are days that must happen to you.
Vielleicht war dies ein solcher Tag.
Jisung begriff, dass er die Augen geschlossen hatte, als er eine Hand an seiner Taille spürte. Der Mensch öffnete die Augen.
Zwei goldene Iriden, die wie die Sonne funkelten, starrten zurück.
Lee Minho war ihm hinterher gesprungen. Einfach so.
Der Blauhaarige zog den Mund auf, um etwas zu sagen, um seinen Gegenüber anzubrüllen, er sei ein Idiot, ein Volldepp, ein Irgendwas!
Wie konnte er ihm nur hinterherspringen?
Minhos Magie prickelte durch die Luft, während er sie nutzte, um dafür zu sorgen, dass eine Entfernung zu den Klippen und den Felsen entstand, welche unter ihnen aufragten. Er stieß sie quasi mit einem Schwall weiter zum Ozean hinaus.
Und dann presste der Braunhaarige seine Lippen auf die von Jisung. Dahinter verbarg sich weder Zärtlichkeit noch Liebe und doch küsste ihn Jisung, nachdem der erste Schock verflogen war, zurück, als sie hart durch die Wasseroberfläche brachen. Minho schlang seine Arme um ihn und drehte sie so, dass die Sirene mit dem Rücken zuerst aufkam. Ansonsten wäre Jisung wahrscheinlich zerquetscht worden. Er hatte dennoch das Gefühl all die Luft, die er in sich trug, wurde aus ihm herausgepumpt, während sie nach unten sanken. Der Blauhaarige öffnete die Augen. Das kalte Wasser hüllte ihn in Schweigen. Er versuchte sich auf sein Herz zu konzentrieren, dessen Rythmus einem Presslufthammer glich. Eine anbahnende Krise klopfte an, doch er schob sie zur Seite, um sich an Minho zu wenden.
Jisung begann zu Kreischen.
Und das nicht wegen des Kusses, sondern aufgrund der Tatsache, dass sein Gegenüber keine Beine mehr besaß, stattdessen befand sich dort eine Flosse, eine Flosse! Keine Beine, sondern eine Schwanzflosse, die ihn automatisch noch größer wirken ließen, was beängstigend war. Schuppen schlängelten sich seinen Körper hinauf, bis zu seinen Wangen, wo sie sein Gesicht einrahmten. Er wirkte noch schöner, noch eleganter, noch unsterblicher, als in seiner menschenähnlichen Hülle.
Minhos süffisantes Grinsen ließ erröten.
Jisung schüttelte den Kopf.
Gedanken! Verschwindet!
Im gleichen Moment bemerkte er seine Stumpfsinnigkeit. Er schloss schnell den Mund, damit kein Wasser hinein drang. Scheinbar amüsierte es die Sirene, denn Minhos Lachen dröhnte gedämpft durch das Meer. In Jisungs Ohren klang es wie Glockenleuten.
Eine Verkündung von etwas Schönem.
"Durch den Kuss einer Sirene kann man für einige Minuten unter Wasser atmen", erklärte er. Der Mensch nickte verstehend und zwischen all dem Wasser, der Kälte und Tiefe, zwischen dem Seegras, dem Sand und der Nähe zu Minho schien die Welt Kopf zu stehen und vollkommen aus den Fugen zu geraten. Aber das war egal. Der Blauhaarige begann zu lachen, laut zu lachen, als würde er nicht gerade im Begriff sein, langsam bei vollem Bewusstsein, zu ertrinken.
Minho beobachtete ihn, wie er auf der Stelle vor sich hin strampelte, bis er Jisung voller Schock entgegenblickte, als wäre gerade eine erschütternde Feststellung über ihn zusammengebrochen.

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Guten Abend, meine lieben Leser und Leserinnen! Der erste Kuss! Und dazu auch noch mehr oder weniger unfreiwillig!
Wie fandet Ihr Minhos tat? Was denkt Ihr,

Pearls {Minsung}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt