💠Training III💠

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Jisung war ein Geist.
Er existierte nur noch in der Ebene, wo man ab und zu Nahrung und Wasser zu sich nehmen musste, ansonsten herrschte in ihm einen gähnende Leere, er war bloß eine Hülle. Kein Funken Licht, kein immerwährender Sommer, da war nur Dunkelheit. Selbst Gaya, die die letzte Woche mit bei ihm Zuhause verbrachte, wo er Beleidsbekundungen aussortierte und Danksagungen schrieb, wo er mehr und mehr das Strahlen verlor, was ihn vorher antrieb, merkte, dass er nicht der Jisung war, der er zu seien schien. Verluste rissen Krater in jemandem, saugten Freude und Lebensenergie aus einem heraus, wie ein Ballon, den man nicht zuschnüren konnte. Dass er nun wieder im Internat war, bekam er nur zum Teil mit. Die meiste Zeit verbrachte und lebte er in dieser Zwischenwelt, in der alles noch in Ordnung war. Wo seine Mum lebte und sein Dad putz munter war, wo sie gemeinsam über Blumenwiesen und Wälder spazierten, wo Jisung Zeit hatte sich für seinen Ausbruch zu entschuldigen. Denn das war das Entscheidene: Er hatte sich nie bei seinen Eltern entschuldigt, konnte diese Wut in sich gegenüber seiner Mum und seinem Dad nicht richtig stellen. Und jetzt waren sie tot, während er am Leben war.
"Hey!", ertönte es schüchtern von Felix, nachdem der Blonde mit seinem Koffer in ihr Zimmer trat. Im ersten Moment verstand Jisung nicht, dass der Meermann mit ihm sprach, bis Gaya ihn anstupste. Kopfschüttelnd landete er im Hier und Jetzt. Er begrüßte Felix mit einer kurzen Umarmung, auch wenn das nicht im geringsten seiner Art entsprach. Aber für mehr war er gerade nicht bereit. Die Stimmen, ja, Stimmen, sonst besaß er nur eine, mittlerweile penetrierten drei oder vier seinen Verstand, säuselten Dinge, hielten ihn in der Zwischenwelt gefangen, wie eine Maus im Käfig, hielten ihn auf Abstand mit allem was um ihn herum geschah. Es war schmerzhaft für Jisung in der Echtzeit zu sein, denn da fiel alles auseinander, genau wie er selbst.
"Seungmin und Jeongin kommen auch gleich, wenn du willst, können wir ja was zusammen unternehmen."
Der Blonde nickte nur und begann mit dem Auspacken seiner Sachen. Es dauerte nicht lang, da hörte er die Tür zum Zimmer sich öffnen. Jeongin und Seungmin traten herein. Wobei Letzterer ihn ohne zu fragen in den Arm nahm. Jisung versuchte sich der Wärme von Seungmin zu entziehen, doch der Meermann hielt ihn fest umklammert, als stünde das Ende der Welt bevor. Kim Seungmin war eine Naturgewalt und das wusste er. Diese bleibende Schönheit in ihm selbst war Jisungs Verhängnis, denn die Tränen schossen aus ihm empor, dass er zusammmensank. Seine Schluchzer entrangen sich seiner Kehle und es glich einem Erdbeben, welches über ihr Zimmer zog. Er konnte weder atmen, noch sehen, noch hören. Nur das Wissen, dass Seungmins Kraft, Seungmins Halt über ihn wachte und ihn zusammenklebte, ließ ihn aufatmen. Eine wärmende Präsenz an seinem Rücken gab ihm zu verstehen, dass er nicht alleine war. Im Augenwinkel bemerkte er auch Gaya und Jeongin, die ihn umarmten, ihn unterstützten, ihm Kraft, gegen all das Leid und den Schmerz und die Trauer spendeten.
"Vielleicht sind wir anders als du, was das Körperliche angeht, aber im Inneren sind wir alle gleich. Du gehörst zu unserem Team und wir zu dir", hörte er Seungmins beruhigende Stimme.
Er nickte und wischte sich über die Augen.
Jisung hätte nicht gedacht, dass es so schlimm werden würde, aber jeder dem er begegnete, schenkte ihm diesen mitleidigen Blick, sodass der Blonde langsam aber sicher nicht mehr atmen konnte. Ja, seine Eltern waren tot, ja, er wirkte wie ein Untoter, ja, er schlief seit Tagen kaum bis gar nicht, aber das hieß noch lange nicht, dass er tot war. In der Mittagspause hielt er es nicht mehr aus und suchte das Weite. Er fand sich in irgendeinem Gang wieder, den er kannte, obgleich er ihm nicht bekannt vor kam.
"Denk nicht, nur weil deine Eltern tot sind, kannst du dich dem Training entziehen", ertönte die Stimme von Minho. Jisung zuckte bei den Worten zusammen.
Obwohl die Aussage ihn eigentlich härter treffen sollte, war Jisung froh, das Minho eben Minho war. Er nahm kein Blatt vor den Mund, hatte nichts für Sentimentalitäten übrig und das ließ Jisung aufatmen, denn der Braunhaarige fasste ihn nicht wie der Rest der Schülerschaft mit Samthandschuhen an.

"Vor langer Zeit, als die Meere noch von Piraten beherrscht wurden, war ich der Sohn einer reichen Fürstenfamilie. Wir lebten in Saus und Braus, hatten nie ein schlechtes Gewissen, wenn es ums Wegwerfen von Essenresten ging oder das Anrichten eines großes Banketts, wo Geld und Schnaps floß, wie es Sand am Meer gab."
Jisung folgte aufmerksam Minhos Erzählung. Der Braunhaarige hatte ein Talent die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es half ihm Abstand von seinem Verstand zu bekommen. Er fand es überraschend, dass der Braunhaarige von sich erzählte, Geschichten aus der Vergangenheit preisgab, die wahrscheinlich keineswegs gut endeten.
"Bis ich diesem ganzen Kram überdrüssig wurde. Nachts schlich ich mich raus, um die Stadt zu erkunden, die Dorfmenschen zu beobachten, wie sie feierten, wie sie tanzten und lachten und voller Freude waren. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass dies nicht einmal annähernd so steif war, wie die Bankete meiner Familie. Und das war aufregend. Es war Leben, echtes, richtiges Leben."
Der Blonde entdeckte in den Augen der Sirene ein Funkeln, dass vorher noch nie dagewesen war. Und es faszinierte ihn, wie lebhaft Minho dadurch wirkte. Es wirkte seiner Dunkelheit, wie Licht entgegen.
"Nacht für Nacht ging ich zum Hafen, manchmal feierte ich mit den Menschen. Sie kannten mich ja nicht. Zu dieser Zeit war ich selbst einer ihresgleichen."
Minho blickte zur Decke der Kapelle und betrachtete die Sternenbilder.
Jisung folgte seinem Blick.
"Und dann traf ich Sie."
Der Mensch ahnte was als Nächstes kam, und ließ gespannt seine Beine im Wasser hin- und herbaumeln. Es war überraschend einfach gewesen, nachdem die Sirene seine Hand genommen hatte und zum Wasser führte. Natürlich flüsterten die Stimmen in seinem Kopf, natürlich brannte sich der Schweiß in seine Haut. Sein Herz schleuderte stets, wie in einer Waschmaschine.
Aber durch Minho war es erträglich. Erträglicher.
Seine Worte waren wir Balsam für Jisungs Seele und zum ersten Mal seit einer Woche ging es weder um ihn, noch um den Tod seiner Eltern. Und das war beängstigend und erleichternd zugleich.
"Ihr Name war Jin-Ae und sie trug das Meer in sich, wie eine Kette um den Hals. Sie war ein Sturm, der mich beinahe weggefegt hätte und sie war Wildnis und Feuer und Leben in so vieler Hinsicht, dass ich ihr nicht widerstehen konnte."
Ein klitzekleiner Stich durchzog Jisungs Brustgegend, auch wenn er nicht wusste, was das bedeutete. Es war die erste Regung, die ihm zeigte, dass er nicht nur eine Hülle war.
"In einer Nacht stellte ich fest, dass sie eine Piratin war, die nur zur Durchreise im Hafen meiner Heimatstadt hielt."
Einen kurzen Moment schien Minho zu überlegen, wie er den nächsten Teil rüberbringen sollte. Da kam ihm Jisung zuvor. Er kannte diese Art von Geschichten aus den Büchern, die er las.
"Und dann hast du dich in sie verliebt."
Einen kurzen Moment huschte Trauer über das Gesicht des Braunhaarigen, was Jisung selbst irgendwie verletzte. Und irritierte.
"Sie bot mir an, mich mitzunehmen. In die weite Welt, um die Weite des Ozeans mit ihr zu erkunden. Mein Kopf war so vernebelt, so voller Freude, Vorfreude, Aufregung, dass ich zu meinen Eltern bin und ihnen genau das gesagt habe. Natürlich waren sie dagegen, schließlich war ich ihr einziger Sohn, aber das war mir egal. Ich packte eines nachts meine Sache, ging an Bord und blickte nie zurück."
Die Verbitterung in Minhos Stimme implizierte, dass noch etwas geschehen war, noch etwas viel Schlimmeres, was sein Dasein als Sirene erklärte.
Jisung fragte ihn, was dieses Ereignis war.
"Die Welt war fantastisch und neu und sehenswert, dass ich es kaum aushalten konnte auf dem Schiff. Ich machte stets und ständig Erkundungstouren, sobald wir an Land waren, lernte wie ein Pirat zu leben, zu essen und zu töten. Und es war großartig. Ich hatte keine Verpflichtungen, konnte tun und lassen, was ich wollte und hatte das wundervollste Wesen an meiner Seite, bis zu jenem Tag, an dem ich ihren Vater kennenlernte."
Minhos Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, das Funkeln in seinen Augen längst erloschen. Und Jisung konnte nur erahnen, welches Leid ihm widerfahren war.
"Jin-Aes Vater mochte mich nicht, doch aufgrund der Liebe zu seiner Tochter ertrug er mich."
Der Blonde stellte sich vor, wie ein großer Hühne mit Vollbart Minho gegenüberstand, ihn stirnrunzelnd beobachtete, ihn stillschweigend observierte.
"Eines Nachts, wir waren an Land, um unsere Fässer mir Rum aufzufüllen, kam es zu einem Streit zwischen mir und ihrem Vater. Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern", gab die Sirene zu, weswegen Jisung verständnisvoll nickte.
"Mir wurde mit einem harten Gegenstand auf den Kopf geschlagen. Stunden später fand ich mich an Armen und Beinen gefesselt auf dem Schiff wieder. Doch irgendwas hatte sich geändert. Die Männer an Bord halfen mir nicht, sie sahen verändert aus. Sie waren Sirenen."
Jisung hatte bisher noch nie gesehen, wie Minho die Fassung verlor. Allgemein war er überrascht, dass der Braunhaarige ihm all das von alleine erzählte.
Vielleicht aus Mitleid, grunzte eine Stimme gehässig.
"Es begannen Stunden der Qualen für mich. Ich wusste weder, wo Jin-Ae war, noch was passieren würde. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich in dieser sternenklaren Nacht sterben würde."
Für einen Moment stockte Jisung der Atem, denn diese Gewissheit mit der Minho sprach, jagte ihm Eissplitter über den Rücken. Klitzekleine Dornen aus wunderschönen Kristallen.
"Die Welt ist nicht fair, Jisung. Das wird sie niemals sein. In dieser Nacht wurde ich nicht nur aufgeschlitzt, ausgepeitscht, gefoltert, sondern verlor auch die Liebe meines Lebens."
Jisung betrachtete Minhos Gesichtszüge und rutschte näher an ihn heran. Das Einzige, was er ihm schenken konnte, war Wärme und Licht, auch wenn beides selbst in ihm fast erloschen war.
Doch für Minho würde er es tun. Für ihn würde er dieses Licht erzwingen.
"Irgendwann, nachdem die Stunden der Folter vorüber waren, wurde ich achtlos über Bord geworfen. Das Letzte, was ich hörte, bevor die ewige Dunkelheit mich umschloss, war das Kreischen von Jin-Ae, dieses leidene Kreischen, weil ich ihren Vater mit mir zog."
Jisung strich dem Braunhaarigen über seine Schultern, warum auch immer die Sirene  vorhin sein Oberteil ausgezogen hatte, jetzt verstand der Blonde diese Tat.
"Dieses Zeichen auf deiner Brust, bedeutet das-"
Minho nickte stillschweigend.
"Ja, ich habe meinen Peiniger noch nicht getötet."
Jisung wanderte in seine Zwischenwelt.
Lee Minho lebte seit Hunderten von Jahren und suchte noch immer nach dem, der sein Leben so verändert hatte.
"Aber ich dachte, du hättest Jin-Aes Vater mit in die Fluten gerissen?", fragte er ungeduldig. Minho seufzte und strich sich über seine Augen.
"Anscheinend nicht. Bis heute habe ich Jin-Ae nicht gefunden. Vielleicht ist sie tot. Vielleicht segelte sie noch immer durch die Weltmeere mit ihrem Vater. Aber ich werde, hier und jetzt, Herzschmerz nicht romantisieren oder lobpreisen. Für mich war es eine Art Tod, den ich überleben musste."
Bei diesem Worten stellten sich seine Nackenhaare auf. Lee Minho hat die Hölle durchschritten, hat gelitten, wurde veränderte, verabscheute die Welt und bewegte sich trotz dessen noch immer mit erhobenen Haupt durch sie hindurch.
Und das empfand Jisung als beängstigend, eben weil er sich nicht unterkriegen ließ, weil er immer weiterkämpfte. Nicht so wie Jisung, der zusammenbrach und keinen Grund mehr sah weiter zu gehen. Dieser steinige Weg war anstrengend und ätzend und ermüdend und er wollte nur noch alles hinschmeißen. Minho drehte sich zu ihm, starrte ihm direkt in seine Augen, in seine Seele. Und die Worte, die er sprach, ähnelten einer Heilung, auch wenn er noch immer in dieser Hülle gefangen war.
"Jedes Mal, wenn du denkst, du seist gebrochen, erinnere dich daran, dass du niemals wirklich brichst. Niemand kann den Ozean brechen, Kleiner, das Einzige, was du tun musst, ist, dass Glas zu zerstören, welches dich zurückhält. Tauche tiefer in die Tiefen deiner selbst, entdecke dich in den Ecken, der am düstersten, schillernden Wellen, erneuere dein Herz mit Hilfe der Korallen, mit Seeblüten, mit mondgefärbten Sandstaub. Hör auf dich zurückzuhalten in diesem Glas, es war niemals da, um dich zu stützen. Also zermalme es, zerstöre es, zerquetsche es in tausend Stücke und werde zu dem, der du schon lange auserwählt bist zu sein:
Ein Ozean, stolz und ganz."

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Guten Abend, meine lieben Leser und Leserinnen! Endlich! Minhos Vergangenheit, ein Einblick, in das, was er erlebt hat, was ihn geformt hat!
Aber auch Seungmins Kraft, die Jisung geholfen hat.

Wie fandet Ihr das Kapitel? Was haltet ihr von Jin-Ae?

Feel free to comment!

Erin🌸

Pearls {Minsung}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt