4.

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Kurz bevor ich mich auf den Weg zur Arbeit machte, trafen John und Raf wieder in der WG ein. Yassin war längst aus dem Haus und auch ich müsste spätestens in ein paar Minuten los.

„Ihr habt Glück. Gleich wäre keiner mehr hier gewesen, um euch aufzumachen."

Statt sich für sein Verhalten von eben zu entschuldigen, stapfte der große Blonde an mir vorbei, direkt in die Küche. Raf dagegen schaute entschuldigend zu mir runter. Ihm schien es wirklich unangenehm zu sein, auch wenn er am wenigsten für all das konnte.

„Er muss erst noch lernen, damit umzugehen. Gib ihm ein paar Tage. Ich hab selbst eine kleine Schwester und weiß genau, wie er sich fühlt."

„Ich bin fast 25 Jahre alt. Er tut gerade so, als wäre ich 14 und er müsste aufpassen, dass mir meine erste große Liebe nicht weh tut."

„Für ihn ist es die erste große Liebe seiner kleinen Schwester, die er miterlebt. Er hat dich noch nicht lange in seinem Leben, vergiss das nicht."

Rafs dunkle Augen strahlten eine unglaubliche Ruhe aus. Alles an ihm wirkte ruhig, auch wenn das bestimmt nicht immer der Fall war, wenn er mit den 187 Jungs abhing.

„Keine Ahnung. Ich muss jetzt auf jeden Fall zur Arbeit. Könnt ihr euch bis heute Abend bitte nicht die Köpfe einschlagen?"

Letzteres hatte ich extra laut in Richtung Küche gerufen. Von John kam nichts zurück, obwohl ich mir sicher war, dass er mich gehört hatte.

„Wir können dich auch mitnehmen und später wieder abholen. Sind mit ein paar Freunden aus Frankfurt verabredet, auch Rapper.", schlug Raf vor.

Dankend nahm ich sein Angebot an und holte meinen Rucksack aus meinem Zimmer.


Ich staunte nicht schlecht, als die beiden Männer auf einen fetten schwarzen Audi zusteuerten, den sie in unserer Straße geparkt hatten. Im Halteverbot. Seit ich John und seine Leute kannte, überraschte mich eigentlich nichts mehr, weder teure Uhren noch Autos.

„Schickes Auto.", murmelte ich, als ich es mir auf der Rückbank gemütlich machte.

Mein Bruder, der vor mir saß, drehte sich irritiert zu mir um.

„Von meinen ganzen Autos warst du null begeistert, aber Rafs Auto feierst du direkt, oder was?"

„Hab nur gesagt, dass es schick ist.", gab ich genauso irritiert zurück. „Und ich fasse es nicht, dass ihr den hier einfach abgestellt habt. Auf offener Straße."

„Dann solltest du mal meinen Ferrari sehen. Können in Berlin mal eine Runde mit drehen."


Raf fuhr mit einem Affentempo, so dass ich viel zu früh vor der Wohngruppe erschien.

„Theoretisch habe ich um 17 Uhr Feierabend. Aber ich habe heute einen Gerichtstermin und einen Arzttermin zu begleiten, kann also länger dauern."

„Schreib einfach, dann holen wir dich direkt ab."

„Okay und danke fürs Fahren. Bis später."

Ich stieg aus und schmiss die Autotür etwas zu feste zu. Johns Fenster ging augenblicklich runter und beide Männer schauten mich warnend an.

„Oh, ups.", war das einzige, das mir dazu einfiel.

Mein Gesicht hatte sich panisch verzogen und ich murmelte eine Entschuldigung in Richtung Raf.

„Das ist ein Auto, kein Panzer. Ein sehr teures Auto, um genau zu sein. Noch einmal und ich mache hinten die Kindersicherung rein."


Der Tag verlief genauso stressig, wie ich es erwartet hatte. Nach der Kindsanhörung vor Gericht fingen uns die Eltern des 7-jährigen Mädchens vor dem Gerichtsgebäude ab. Eine wirklich unangenehme Situation, denn die Eltern hatten keinerlei Verständnis, warum ihnen ihre Tochter weggenommen wurde. Das Mädchen verstand wiederum nicht, warum es nicht zurück zu ihren Eltern durfte. Wie so oft waren die Eltern auf irgendwelchen Drogen, man konnte es beiden an ihren Augen ansehen. Das Mädchen kannte ihre Eltern und ihr zu Hause nicht anders und hatte diesen Zustand als Normalität akzeptiert. Da die Eltern auf mich und auf die zuständige Mitarbeiterin vom Jugendamt losgingen und uns die wildesten Schimpftiraden an den Kopf warfen, musste das Sicherheitspersonal des Gerichts dazwischen gehen. Eine unschöne Erfahrung für alle Beteiligten und immer wieder unvorstellbar, dass die Eltern nicht kapierten, dass sie sich mit solchen Aktionen auch ihre kleinsten noch vorhandenen Chancen beim Jugendamt versauten.


Später am Mittag hatte ich einen Termin beim Kinderarzt zu begleiten. Es stand eine notwendige Impfung an, allerdings war der 5-Jährige, den ich dabei hatte, wenig begeistert von der ganzen Aktion. Er schrie die gesamte Praxis zusammen, noch bevor es überhaupt losging. Alles gut zureden brachte nichts. In einem unbeobachteten Moment sprang er auf und rannte aus dem Behandlungszimmer. Eine Ärztin und zwei Arzthelferinnen waren nötig, um den Jungen wieder einzufangen. Ich sollte ihn auf meinem Schoß halten, allerdings zappelte er so stark und biss mir anschließend so feste in den Arm, dass wir den Impftermin letztendlich auf einen anderen Tag verschieben mussten. Die Kinderärztin behandelte kurz meine Bisswunde, die blau anlief und an einigen Stellen blutete.

„Eigentlich müsste ich sie jetzt an ihren zuständigen D-Arzt weiterleiten. Ein Kinderbiss kann sich schnell entzünden, weshalb sie ein paar Tage Antibiotika einnehmen sollten."

Ich seufzte auf und versicherte der Ärztin, dass ich mich heute noch beim D-Arzt vorstellen würde.


Zurück in der Wohngruppe begutachtete mein Kollege Hannes den Biss und war derselben Meinung, wie die Ärztin.

„Das ist vor allem ein Arbeitsunfall, das musst du sogar eintragen und melden. Und nicht, dass sich das ernsthaft entzündet. Geh lieber mal zum Arzt."

Genervt musterte ich meinen leicht angeschwollenen Unterarm.

„Was ein Mist. Ich hab ab morgen Urlaub und gar keine Lust auf sowas."

Glücklicherweise bekam ich noch am selben Tag einen Termin. Vielleicht könnte Raf mich sogar fahren. Es war fast 17 Uhr, daher entschied ich mich, John anzurufen. Er ging zum Glück relativ schnell ran.

„Was geht ab. Schon fertig?"

„So ähnlich.", stöhnte ich missmutig.

„Könnt ihr mich abholen und schnell zum Arzt fahren?"

„Was ist passiert? Geht's dir gut? Hattest du einen Unfall?" John klang mit einem Mal hektisch und aufgeregt.

„Halb so wild. Ich wurde von einem Kind gebissen und muss das jetzt beim D-Arzt mal abchecken lassen."

„Was für ein Arzt? Häh, wie gebissen?"

„Durchgangsarzt. Muss man hin, wenn man einen Arbeitsunfall hatte."

„Was auch immer. Wir sind gleich da."

Damit hatte er aufgelegt und ich packte mein Zeug zusammen. Mein Kollege kam gerade zurück ins Büro und ich erklärte ihm, dass ich gleich einen Termin hatte.

„Schreib mal, wenn du bei Arzt fertig bis. Trotzdem einen schönen Urlaub und genieße die freie Zeit."

„Ja danke, mache ich. Bis nächste Woche."

Hey Brother (Bonez MC)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt