Dieses Kapitel widme ich meiner Theatergruppe, die mit mir Jahr für Jahr Momente schenkt, in denen ich glaube, dass ich bis in den Himmel fliegen kann.
Im Himmel
JolinaEs gab bloß eine kleine Handvoll Ängste, die mich mein Leben lang begleitet hatten. Aviophobie – Flugangst – gehörte dazu. Ich fühlte mich machtlos, da ich die Kontrolle in die Hände der Fluggesellschaft und des Piloten legen musste. Ich fühlte mich verloren zwischen all den Weiten des Himmels. Auch die wenigen Wolken, die an meinem Fensterchen vorbeizogen, vermochten mir keinen Halt zu geben. Also beschloss ich, die Augen zu schließen und mich in schönen Erinnerungen zu suhlen.
„Miss Jolina?", fragte die Studentin in den Warteraum. „Hier", antwortete ich und erhob mich von einem der Plastikklappstühle. Immerhin hatte ich einen ergattern können. Viele der anderen Kandidaten mussten mit dem Fußboden Vorlieb nehmen. „Folgen Sie mir bitte", lächelte sie mir aufmunternd zu.
Nachdem sie sich umgedreht hatte, wischte ich meine feuchten Hände an meinen dunklen Jeans ab. Die Prüfer sollten nicht merken, dass ich mit meiner Nervosität zu kämpfen hatte. „Herzlich Willkommen, liebe Jolina", begrüßte mich ein älterer Herr mit furchigem Gesicht. Ich mochte ihn auf der Stelle. Wie seine Augen mich freundlich musterten und voll echter Freundlichkeit glänzten. Ich schenkte ihm ein zwar noch etwas zittriges Lächeln, aber immerhin hatte überhaupt ein Lächeln zustande gebracht. Schon drei Mitstreiter waren aus dem Saal gestürzt und hatten mit Tränen in den Augen berichtet, dass sie sich vor Angst nicht hatten rühren können.
„Welchen Monolog hast du für uns vorbereitet?", verlangte er zu wissen. „Den abschließenden Monolog von Nina aus dem Stück „Die Möwe" von Anton Tschechow", ratterte ich herunter, zu aufgeregt, um in meinen natürlichen Gemütszustand zurückzukehren. „Oh, wie schön! Die Bühne gehört dir, Jolina, viel Glück." Ich nickte ruckartig und wankte die dreistufige Treppe hinauf, um meine Anfangsposition zu finden. Ich stellte mich aufrecht hin, schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete ein letztes Mal tief durch. Dann war ich verschwunden, meine Nervosität mit mir. Und da wo ich kurz zuvor noch gestanden hatte, durchlebte Nina ihre tragische Vergangenheit ein weiteres Mal.
„Warum sagen Sie, Sie hätten die Erde geküsst über die ich gegangen bin? Totschlagen müsste man mich!", kreischte sie schrill durch den Raum. Dann fiel sie in sich zusammen. „Ich bin so müde. Nur einmal ausruhen, ausruhen." Einen Moment des Schweigens, der Erschöpfung, des Leides. „Ich bin die Möwe", erklärte sie monoton und anteillos. „Nein, nicht doch", korrigierte sie sich, wieder aufbrausend. „Ich bin eine Schauspielerin, ja, JA!" Doch sie war den Tränen nahe, sie wusste nicht, was sie glauben sollte, was der Realität entsprach und was der Fiktion.
Dann vernahm sie einen Laut. Ein Lachen. Doch nicht bloß irgendein Lachen. Es war sein Lachen. Das Lachen des Mannes, der sie ausgenutzt hatte. Der ihr seine Liebe geschworen hatte, um sie dann fallen zu lassen, nachdem sie ihm nach Moskau gefolgt war. Eine Schmach, die sie ihr ganzes Leben begleiten würde.
„Er ist auch da", murmelte sie verstört. „Ja, ja. Das macht nichts", versuchte sie sich zu überzeugen. „Ja", ließ sie ein weiteres Mal vernehmen. Doch lange vermochte sie ihre Lüge nicht aufrecht zu erhalten. Auf einen Klappstuhl ließ sie sich fallen. Ihre Augen starr in die Ferne gerichtet. „Er hat nicht ans Theater geglaubt, er hat immer über meine Träume gelacht. Und ganz allmählich habe auch ich aufgehört, an mich zu glauben und den Mut verloren." Emotional und doch sachlich erzählte sie dem Einzigen, der sie aufrichtig geliebt hatte, was ihr wiederfahren war. Wie der Mann für den sie ihn, Konstantin, verlassen hatte, ihr bloß Leid gebracht hatte. Sie konnte nicht mehr spüren, wie sehr sie Konstatin damit verletzte, zu sehr war sie mit ihrer eignen Trauer beschäftigt.
„Und dann die Qualen der Liebe, die Eifersucht, die ständige Angst um das Kleine. Ich verlor mich in Nebensachen, in Nichtigkeiten, ich spielte ohne Sinn und Verstand." Immerzu steigerte sich ihre Stimme, ohne den Höhepunkt zu erreichen. Dafür war sie noch immer nicht verzweifelt genug. Noch nicht, doch lange würde es nicht mehr dauern. „Ich wusste nicht wohin mit den Händen. Ich hatte nicht die Technik heraus, wie man sich auf der Bühne bewegt. Ich hatte meine Stimme nicht in der Gewalt", schrie sie. Es verschaffte ihr Erleichterung, wie sie sich alles von der Seele reden konnte. Dass ihre Worte Konstantin in den Selbstmord treiben würden, konnte sie noch nicht wissen. Erst musste sie all ihre Enttäuschung loswerden und zur Erkenntnis kommen, dass sie trotz allem ihren Weg zu gehen hatte. Dass sie das Schauspiel nicht abschreiben würde. Gleichgültig welche Herausforderungen sich das Schicksal für sie ausdachte, nichts konnte sie von ihrem Traum noch abhalten.
Nina sprach weiter, sie sprach und sprach und sprach. Ließ Konstantin kaum zu Wort kommen. Dann verabschiedete sie sich und verschwand in der stürmischen Nacht. Im Salon, den sie soeben verlassen hatte, würde Konstantin seine Manuskripte zerreißen. Seinen Schriftstellertraum beenden. Und gleich darauf sein eigenes Leben mit einer einzelnen Kugel auslöschen.
Ich hörte den Applaus erst, als ich schweratmend hinter den Vorhängen stand. Erst dann kehrte ich in die Realität zurück. „Bravo", rief der ältere Herr mir zu. „Ich bin sehr beeindruckt von deinem Talent! Bevor ich und meine Kollegen uns über eine mögliche Zulassung unterhalten werden, möchten wir noch gerne von dir wissen, weshalb du denkst, dass Theater für dich das Richtige ist. Es ist eine harte Branche, die keine halben Sachen erlaubt." Ich wusste schon lange, dass ich diese Frage noch zu beantworten hatte und so hatte ich mir auch schon jegliche Antworten durchdacht. Doch als ich auf der Bühne stand, noch immer ein Teil von mir als Nina, schien mir keine meiner Phrasen ausreichend zu sein.
„Wenn ich ganz, ganz ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich Ihnen keinen konkreten Grund nennen kann, weshalb ich mich voll und ganz dem Theater und der Schauspielerei verschreiben möchte. Es mag abgedroschen klingen, aber es fühlt sich für mich einfach richtig an. Es ist das, zu was es mich hinzieht. Ich will mich ausdrücken, aber nicht nur mich. Ich möchte auch alle anderen Gefühle auszudrücken lernen, die in den verschiedenen Charakteren leben und ihre Facetten in mir entdecken. Ich liebe das Theater, weil ich darin mehr ich selbst sein kann, als irgendwo sonst. Dass es eine große Hausforderung ist, dessen bin ich mir bewusst. Aber gleichgültig, wo ich einmal landen werde, bin ich überzeugt, dass dies mein Traum ist, für den ich zu kämpfen gewillt bin."
Das Prüfungskomitee, welches über die Vergabe der Theaterstudienplätze entschied, nahm meine Worte zur Kenntnis, dann brachte mich die Studentin wieder in den Warteraum. „Du wirst dann im Laufe der folgenden Wochen kontaktiert und darüber informiert, ob du für die Ausbildung zur Schauspielerin zugelassen wirst. Vielen Dank, dass du dein Glück versucht hast", meinte sie und an der Art, wie sie sprach, erkannte ich, dass sie dieses Sprüchlein schon mehr als ein paar Mal aufgesagt hatte. Ich verließ das Gebäude und ärgerte mich über alle Stellen, die ich hätte verbessern können während meines Spielens.
Ich lächelte glückselig vor mich hin. Wie hatte ich mich gefreut, als mir die Post einen Brief eingeworfen hatte – mit nichts geringerem als meiner Zulassung! Mit zitternden Händen hatte ich den Umschlag noch im Gehen aufgerissen, nur um dann in erleichterte Jubelrufe auszubrechen. Entschlossen öffnete ich meine Augen wieder und starrte dem leeren Himmel angriffslustig entgegen. Meine Flugangst würde mich nicht davon abhalten, meinen Weg zur Erfüllung meines langjährigen Traums zu genießen.
Quellenangabe: Der gesprochene Text in der "Monolog-Szene" stammt aus dem tatsächlich existierenden Werk «Die Möwe» von Anton Tschechow, jedoch ist das nicht die genaue Originalversion (die wäre sowieso auf Russisch verfasst). Ich habe lediglich die Version aufgeschrieben, die ich für die letztjährige Theateraufführung auswendig gelernt habe. Leider konnte ich aber nicht den ganzen Monolog niederschreiben, sonst wären wir morgen noch nicht am Ende.
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Jaune Canari
JugendliteraturJolina ist eine junge Frau mit dem grossen Traum die Bühnen für sich zu erobern. Ihre Wünsche scheinen schon fast in greifbarer Nähe zu sein, als sie das Stipendium für eine der renommiertesten Kunsthochschulen gewinnt. Dass sie dafür ihre Familie v...