Wo die Verrückten hausen

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Dieses Kapitel widme ich HappyPaty. Einerseits weil du mich zu vereinzelten Eigenheiten von Pam inspiriert hast und andererseits weil du immer an mich und meine Schreibkünste glaubst, obwohl ich es selbst so oft nicht tue.

Wo die Verrückten hausen
Jolina

Ich staunte nicht schlecht, als das Taxi zwischen den Hochhäusern hindurch kurvte. Von mir aus hätte die Stadtrundfahrt noch ewig weitergehen können, doch viel zu schnell bog der Fahrer in ein Nebenquartier ab. Hier waren die Gebäude deutlich weniger hoch und weniger modern. Die meisten sahen schon etwas heruntergekommen aus. Die Farbe blätterte von den Wänden und nicht selten zog sich ein Riss an den Fassaden hoch.

Diesen Eindruck machten die Bewohner jedoch mit blühenden Blumentöpfen auf den Balkonen, niedlichen Willkommensschildern und farbigen Windfängern wieder wett. Sie schienen sich wirklich um ihr Zuhause zu sorgen. Ich lächelte, als ich mir vorstellte, wie an einem lauen Sommernachmittag die Kinder aus ihren Löchern strömten und sich auf den Wiesen zwischen den Wohnblöcken austobten.

Letztendlich wurde ich unsanft aus meinen Gedanken gerissen, da der Taxifahrer eine unsanfte Bremsung vollzog. Er nannte mir den Fahrpreis, aber wie mein Vater es mir immer und immer wieder eingebläut hatte, lud ich zuerst mein Koffer aus, bevor ich ihm sein Geld zusteckte. Nicht dass ich diesem eher trägen Kerl einen Diebstahl zugetraut hätte, aber wissen konnte man ja nie.

Das Taxi brauste davon und ließ mich mit meiner Tasche und dem Koffer auf dem Bürgersteig zurück. Ich drehte mich dem Wohnblock zu meiner Rechten zu und stellte zu meiner Erleichterung fest, dass die Adresse die richtige war. Mit zügigen Schritten näherte ich mich dem Haupteingang.

Ich überflog die Klingelschilder auf der Suche nach dem Namen meiner Vermieterin. Neben der zweituntersten Klingel wurde ich fündig. „Olivia Dunn" stand da. Ich drückte fest zu und es dauerte nicht lange, da meldete sich eine Stimme über den Lautsprecher: „Wer ist das?" Ich räusperte mich und lehnte mich näher zur Gegensprechanlage. „Hier ist Jolina Malessa. Wir haben Vorgestern noch einmal telefoniert", erinnerte ich die Vermieterin. „Einen Moment, Herzchen." Herzchen? Eine sehr... herzliche Anrede.

Die Gegensprechanlage verriet mir durch ein leises Klicken, dass Olivia Dunn auf ihrer Seite den Knopf nun losgelassen hatte, was bedeutete, dass sie auf dem Weg nach unten war und das wiederum hieß, dass man hier hinuntergehen musste, um jemandem die Tür zu öffnen und nicht einfach auf einen Knopf drücken konnte. Ich sah mich schon, wie ich bei jedem Besuch die vielen Treppen hinunter raste.

Da ich nach dem Herzchen so etwas wie eine Umarmung fürchtete, ergriff ich ihre Hand, sobald sie zur Tür hinaus war. „Freut mich Sie kennen zu lernen, Mrs. Dunn", begrüßte ich sie förmlich. „Miss Dunn, Herzchen, Miss Dunn. Ich war nie verheiratet, weißt du." Ich verzog meine Lippen zu einem kurzen Lächeln und ließ ihre Hand los. „Na, dann wollen wir mal. Zuerst müssen wir zu mir in den zweiten Stock, damit ich dir deine Schlüssel geben kann. Hinauf in den siebten wirst du alleine gehen müssen – ich bin schon zu alt für die vielen Treppen", plapperte Miss Dunn in einem Atemzug.

Ich nickte höflich, während ich innerlich fluchte. Mein Koffer war weder klein, noch leicht, noch sonst in irgendeiner Hinsicht dazu geeignet die Treppe hinaufgeschleift zu werden. „Weißt du, du wirst dich sehr wohlfühlen im Appartement. Du wirst begeistert sein von deinen Mitbewohnerinnen. Sie sind zwei sehr anständige und liebenswürdige Mädchen, weißt du."

Mich beschlich die Vorahnung, dass ich „weißt du" noch des Öfteren zu hören bekam, wenn ich mich mit Miss Dunn unterhielt. Sie schien die zwei Wörter regelrecht zu lieben. „Und dein Zimmer wirst du auch lieben! Es ist zwar klein, weißt du, aber der Ausblick ist entzückend", plauderte sie weiter.

Als sie mir meine Schlüssel ausgehändigt und mir noch tausende Tipps gegeben hatte, wie ich mich in dieser Millionenstadt schneller zurechtfinden lernte, freute ich mich sie endlich los zu sein. So fies es auch klang, aber Miss Dunn war nach diesem langen Tag im Flieger einfach zu viel für mich. Dafür freute ich mich umso mehr auf mein neues Heim und die zwei Mitbewohnerinnen, die nach Miss Dunn nicht nur alle Mieten pünktlich bezahlten, sondern auch ruhige und ordentliche Genossinnen waren.

Ächzend schleppte ich mich die restlichen Stockwerke hoch, was mich völlig außer Atem brachte. Ich musste dringend wieder an meiner Kondition arbeiten. Ich schloss die Tür auf und fragte mich im selben Moment, ob Miss Dunn je eine Sekunde mit diesen ruhigen Mädchen verbrachte hatte. Ich schätzte nicht. Aber falls doch, mussten die beiden sich wirklich sehr zusammengerissen haben. Was sie jetzt eindeutig nicht mehr taten.

Auf dem Fußboden lagen überall verstreut Schuhe, Jacken und Taschen. Mit dem Fuß verschaffte ich mir Platz in diesem Durcheinander, sodass mein Koffer und ich aus dem kleinen Eingangsbereich hinaus- und in das Wohnzimmer hineinkamen. Auch hier herrschte Chaos. Schmutzige Teller standen herum, Kleider lagen quer durcheinander und ich konnte nichts finden, was in diesem Raum auf einen geordneten Tagesablauf hindeutete.

Am wenigsten meine neuen Mitbewohnerinnen. Mädchen Nummer eins stapfte wütend durch das Zimmer. Ihr schulterlanges, lila Haar wippte bei jedem ihrer Schritte mit. Dabei schrie sie in ihr Handy, als ginge gleich die Welt unter. „BIST DU KOMPLETT BESCHEUERT?", kreischte sie gerade. „Du behauptest, ICH wäre fies, wenn ich meine Charaktere sterben lasse, und DU würdest ihnen nur Liebeskummer bereiten? ICH GEB DIR GLEICH LIEBERKUMMER!" Ich runzelte die Stirn und atmete tief durch, um nicht jetzt schon die Geduld zu verlieren. Das konnte hier ja was werden. Ich winkte, um das Mädchen auf mich aufmerksam zu machen, aber sie blinzelte mich nur wütend an und drehte sich wetternd von mir ab.

Na gut, dann eben nicht. Vielleicht hatte ich bei meiner anderen Mitbewohnerin mehr Glück. Diese lag auf dem Sofa und sortierte ihr langes, blondes Haar, um sich dann selbst mit Hilfe ihres Handys abzulichten. Ich kämpfte mich zu ihr durch und räusperte mich geräuschvoll. „Oh, du musst unsere neue Mitbewohnerin sein. Miss Dunn hat uns vorgewarnt." Miss Dunn hätte eher mich vorwarnen sollen. „Du kommst gerade recht", zwitscherte sie. „Hier, nimm das." Sie drückte mir ihr Handy in die Hand und lächelte mir – beziehungsweise dem Handy – flirtend zu. „Mach einfach ein paar Fotos, dann wird bestimmt eines herauskommen, dass ich auf Facebook stellen kann. Ich brauche dringend ein neues Profilbild!"

Ich war von ihrem Handeln so perplex, dass ich doch tatsächlich ihrem Wunsch (oder ihrem Befehl) nachkam und ein paar Fotos schoss. Dann reichte ich ihr das Handy zurück und sie hüpfte damit davon. Kurz bevor sie hinter einer Tür verschwand, drehte sie sich noch einmal um und deutete auf das Zimmer gegenüber. „Ach und du wohnst dort, falls du das fragten wolltest." Sie lächelte, als hätte sie mir in den letzten Minuten den größten Gefallen der Welt erwiesen. „Danke", meinte ich ironisch. „Nichts zu danken", flötete sie glücklich. Dann zog sie die Tür hinter sich in die Angeln und ließ mich alleine im Wohnzimmer stehen. Ich ließ mich auf meinen Koffer fallen und barg das Gesicht in den Händen. In was für einen Zirkus war ich hier hineingeraten?


Jaune CanariWo Geschichten leben. Entdecke jetzt