Emotionen über Emotionen

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Dieses Kapitel widme ich allen, die hin und wieder mit sich selbst kämpfen – sei es um der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft Willen.

Emotionen über Emotionen
Jolina

Wie angewurzelt blieb ich im Türrahmen stehen. Fieberhaft ging ich meine Möglichkeiten durch. Ich könnte mich hinknien und Kacy und Pam meine Unterstützung zeigen. Immerhin waren sie meine Mitbewohnerinnen, wenn auch erst seit knapp zwei Tagen. Anderseits hatte ich mit weinenden Menschen noch nie besondere Fertigkeiten an den Tag gelegt. Meistens ging es ihnen nach meinen Aufmunterungsversuchen nur noch schlechter als vorher. Ich stellte mich jedes Mal schrecklich ungeschickt an und sprach genau diese Themen an, die ich hätte vermeiden sollen.

Jedoch blieb mir noch eine zweite Möglichkeit. Ich könnte versuchen mich unbemerkt in die Küche zu schleichen, dort meine Einkäufe zu verstauen, um danach unbemerkt in mein Zimmer zu gelangen, bevor sich Kacy oder Pam meine Anwesenheit bewusstwurden. Ich rang mit mir, denn obwohl ich die beiden noch kaum kannte, wusste ich, welche der beiden Möglichkeiten die richtige war.

Kacy nahm mir die Entscheidung ab. „Jolina, komm her!", rief sie erleichtert. Ich konnte verstehen, dass sie Erleichterung empfand, wenn sie nicht alleine mit diesem aufgedunsenen Tränenbündel zurechtkommen musste. Ich an ihrer Stelle wäre es auch gewesen. An meiner Stelle hingegen rügte ich mich dafür, dass ich nicht die Flucht ergriffen hatte, als es noch möglich gewesen war.

„Ich stelle nur kurz meine Einkäufe in der Küche ab", meinte ich. Vielleicht konnte ich aus dem Küchenfenster verschwinden. Dann fiel mir ein, dass ich im siebten Stock wohnte. Ich konnte nicht entkommen. Ich watschelte zurück ins Wohnzimmer und blieb unbeholfen neben Kacy und Pam stehen, welche auf dem Boden vor dem Sofa hockten. Weshalb sie nicht auf dem Sofa saßen, war mir ein Rätsel. Andererseits hätte es bei meinen Mitbewohnerinnen genauso gut sein können, dass sie es sich in einem Schrank bequem gemacht hätten. Dagegen schien der Fußboden noch äußerst normal.

„Alles wird wieder gut", redete Kacy auf Pam ein, die noch immer von heftigen Schluchzern geschüttelt wurde. Ich war mir nicht sicher, ob sie Kacys Worte überhaut vernommen hatte. „Was ist den vorgefallen?", versuchte ich Interesse zu zeigen. Doch anstatt einer Erklärung zuckte meine blonde Mitbewohnerin mit den Achseln. „Sie weint, seit sie vor zwei Stunden die Wohnung betreten hat, aber ich habe noch kein Wort aus ihr herausgekriegt."

Ich nickte, als wäre das für mich eine alltägliche Situation. „Vielleicht hast du ja mehr Glück als ich", vermutete Kacy und rückte zur Seite um für mich Platz zu schaffen. Unbehaglich ließ ich mich auf den Boden sinken. „Hi, Pam", begrüßte ich sie. Sie zeigte mit keiner Geste, dass sie mich gehört hatte, aber ich war fast ein wenig froh darüber. „Willst du uns erzählen, was passiert ist?", versuchte ich es halbherzig. Ohne Erfolg, was mich nicht besonders wunderte.

„Tut mir leid", sagte ich an Kacy gewandt. Jetzt, nachdem ich mein Bestes geben hatte, um Pam zu helfen, dufte ich in mein Zimmer verschwinden? Ich beschoss des Anstands halber noch fünf Minuten hier zu verweilen, bevor ich mich in meine eigenen vier Wände verkrümelte.

Fünf Minuten verstrichen. Aus zehn Minuten wurden zwanzig. Als ich mich nach dreiundzwanzig Minuten noch immer nicht traute aufzustehen, gab ich innerlich auf. Ich beobachtete den Sekundenzeiger an der Wanduhr und verfluchte Pam, die nicht aufhören wollte zu heulen; Kacy, die nicht erkennen wollte, dass ihr optimistisches Geplapper absolut keine Wirkung erzielte; und mich. Ich verfluchte mich, weil ich nicht mal genug Selbstvertrauen aufbringen konnte, um aufzustehen und meinen Mitbewohnerinnen zu verkünden, dass ich einfach nur essen und in mein Bett liegen wollte nach diesem verwirrenden Tag.

Jaune CanariWo Geschichten leben. Entdecke jetzt