Für alle, die hin und wieder vom Karma geärgert werden. Also für uns alle.
Karma
JolinaNiemand hätte voraussagen können, dass tatsächlich einer dieser verdammten Scheinwerfer von der Decke fallen würde. Vielleicht war es Zufall. Vielleicht hatte aber auch unsere Gedankenkraft ausgereicht, um die Schrauben zu lockern und so das Ding runterstürzen zu lassen. Fakt war, dass niemand es hätte kommen sehen können.
Ebenso wenig hätte mir jemand prophezeien können, dass es mich treffen würde. Glücklicherweise nur meinen Fuß, aber es traf dennoch mich. Vielleicht war das die Retourkutsche dafür, dass ich Mr. Adams einen Scheinwerfer an den Kopf gewünscht hatte. Sozusagen der Ausgleich für das negative Karma, dass ich mir mit diesem Wunsch angesammelte hatte. Fakt war, dass niemand mich hätte vorwarnen können.
Apropos Fakten: Es gibt so einige über Scheinwerfer. Doch nur zwei davon kann man tatsächlich als nennenswert bezeichnen. Erstens, im Grunde genommen ist die Annahme nicht korrekt, dass ein Scheinwerfer eine technisch hochkomplizierte Angelegenheit darstellt, deren Funktion es ist, die Bühne und das gesamte Geschehen zu beleuchten. Ein Scheinwerfer ist nichts weiter als eine überteuerte Lampe, deren Hauptzweck es ist, die Schauspieler zum Schwitzen zu bringen. Zweitens; Scheinwerfer spielen, was die Gewichtsklasse anbelangt, in derselben Liga wie Babyelefanten und ausgewachsene Flusspferde. Zusammengefasst lässt sich daraus schließen, dass das Herunterstürzen eines Scheinwerfers einerseits enorme Kosten mit sich brachte und andererseits das Landen eines Scheinwerfers auf einem lebenden, menschlichen Körperteil nicht gerade als die angenehmste Sache der Welt beschrieben werden konnte.
„Schließt die Augen und entspannt jeden Muskel", lautete Mr. Adams Devise, kurz bevor sich das Malheur ereignete. Hätte ich in die Zukunft sehen können, hätte ich keinen einzigen meiner Muskeln entspannt. Ich wäre aufgestanden, hätte mich zwei Meter weiter links hingelegt, hätte Mr. Adams über die bevorstehenden Schwierigkeiten aufgeklärt und ihn wahrscheinlich hysterisch angeschrien, wieso es dazu kommen konnte, dass sich niemand um unsere Sicherheit scherte. Oder auch nur das Bein weggezogen und mich somit in Sicherheit gebracht.
„Stellt euch vor, wie ihr euch an eurem Lieblingsort befindet. Vielleicht ist es ein Stand, vielleicht ein Wald, vielleicht ein Zimmer oder eine Wiese." Ich hätte aufspringen und davonlaufen sollen. Stattdessen dachte ich an die kleine Waldlichtung, die ich so oft aufgesucht hatte. An die Sonne, die freudig ihre wärmenden Strahlen über die Steine und Gräser legte, während sie ringsherum kaum durch das dichte Geäst zu dringen vermochte. Monologe hatte ich auf meiner Lichtung geübt, hin und wieder sogar wild getanzt, obwohl ich nicht tanzen konnte, manchmal stundenlang einfach dagelegen und die Wolken über mir beobachtet und die Geborgenheit genossen, in der ich mich zwischen den hohen Birken aalte.
„Achtet auf die Gerüche, die Geräusche. Nehmt alle Sinneseindrücke war, die ihr mit diesem Ort verbindet." Während mir der Geruch von saftigem Moos und keimenden Blumen in die Nase stieg, erkannte ich (noch) nicht die Ironie der Situation. Jede Menge Studenten lagen rücklings auf dem Boden und hätte nur einer von ihnen die Augen für einen klitzekleinen Moment geöffnet, wäre ihm aufgefallen, dass einer der Scheinwerfer seltsam schwankte. Allerdings besuchte ich wohl einen der einzigen Studiengänge, in dem sich jeder Student an die Anweisung des Dozenten hielt, weil er mit vollem Elan für seinen Traumberuf einstehen wollte. Kurz: Alle Augen blieben geschlossen und niemand warnte mich.
Es knallte laut, als sich der Scheinwerfer komplett aus seiner Halterung befreite. Ich riss die Augen auf, nur half es mir jetzt nicht mehr viel. Ich sah die kostspielige Beleuchtung fallen und obwohl es nur einen Bruchteil einer Sekunde dauerte, bis sie meinen Fuß unter sich begrub, nutzte mein Gehirn die Zeit äußerst sinnvoll. Selbstverständlich hätte es meinen Muskeln den Impuls senden können, das Bein wegzuziehen, aber nein, stattdessen erinnerte es sich an Tante Jennas Worte. Sie behauptete immer, dass jeder Mensch mindestens einmal im Leben in einen unnötigen und eigentlich vermeidbaren Unfall hineinstolperte. „Mein Unfall ereignete sich im Sportunterricht", pflegte sie oft zu erzählen. „Und auch wenn die Schmerzen nicht sonderlich angenehm gewesen sind, haben sie sich auf jeden Fall gelohnt." Ich sah den Blick vor Augen, den sie dann Mason zugeworfen hatte. Und ich glaubte ihr, dass ihre Schmerzen sich als lohnenswert erwiesen haben.
Ich jedoch lag bewegungslos auf einer Bühne, während mein Fuß höllisch schmerzte, und sah überhaupt keinen Grund, wieso sich dieser Unfall für mich lohnen konnte. Warum ich keinen sah? Weil ich Pessimistin war oder keine Schmerzen ertragen konnte? Nun, nein, die Antwort war viel einfacher. Ich sah keinen Anlass die Schmerzen auf mich zu nehmen, weil es schlicht und einfach keinen gab.
Kein Retter in goldener Rüstung tauchte auf. Man starrte mich nur mit schockgeweiteten Augen an. Nichts und niemand regte sich. Ich hätte für immer so verharren können, während ich mir mit jeder Faser meines Körpers versuchte vorzustellen, wie ich auf meiner Waldlichtung lag, das Moos zwischen meinen Finger fühlte und den Wolken nachblickte, die stetig über den Himmel zogen. Leider schwoll der Schmerz in meinem Fuß noch mehr an und erinnerte mich penetrant an die Tatsache, dass ich mich eben nicht auf meiner Waldlichtung befand.
Dann wäre wohl der Moment gekommen, in dem ich zu schreien begann, richtig? Der Moment, in dem meine Schmerzen dem Weg an die Oberfläche fanden und sich in lautem Gebrüll äußerten. Jedoch zog der Moment an mir vorbei und alles, was über meine Lippen kam, war ein leises „Aua".
Glücklicherweise reichte es aus, um Bewegung in die Angelegenheit zu bringen. Ich konnte im Nachhinein nicht mehr sagen, wer den Krankenwagen rief, wer sich um mich scharte und wer mir gut zu redete. Es war ein Gewühl aus Farben, Formen und Schmerz. Hauptsächlich Schmerz.
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Jaune Canari
Teen FictionJolina ist eine junge Frau mit dem grossen Traum die Bühnen für sich zu erobern. Ihre Wünsche scheinen schon fast in greifbarer Nähe zu sein, als sie das Stipendium für eine der renommiertesten Kunsthochschulen gewinnt. Dass sie dafür ihre Familie v...