Der Fluch der Hauptprobe

238 31 0
                                    

Für alle, die sich fragen, warum unter dem Titel immer die Person angegeben ist, obwohl die Perspektive nie ändert. Nun, vielleicht waren noch andere Handlungsstränge vorgesehen... was der super organisierten Autorin auch ganz bestimmt nicht erst nach 20K Wörtern wieder eingefallen ist [hust].

Der Fluch der Hauptprobe
Jolina

Manche Dinge im Leben taten unfassbar gut. Weinen beispielsweise. Konnte man sich so richtig ausheulen, fühlte man sich danach vielleicht müde und ausgelaugt, aber auch ein bisschen leichter, weil man eben alles mal rauslassen konnte.

Dummerweise konnte ich nicht heulen, nachdem ich erst die anfänglichen Tränen verdrückt hatte. Ich konnte nicht heulen, als ich nachhause kam, weil ich mich Pam und Kacy – so sehr ich die beiden auch mochte – nicht erklären wollte (Verdrängung funktionierte nicht mehr gleich effizient, wenn man sich mal jemandem anvertraut hatte). Ich konnte nicht heulen, als ich am nächsten Tag an einer Sonntag-Sonder-Probe wieder auf der Bühne einfand, die ich in dem Moment am liebsten bis auf ihre Grundrisse niedergebrannt hätte.

Ich konnte genauso wenig heulen, als ich Szene um Szene unter Mr. Adams prüfendem Blick probte, nur um festzustellen, dass Lane, mit dem ich die meisten meiner Szenen teilte, sich nichts anmerken ließ. Es hätte sein können, dass er ein klein wenig weniger enthusiastisch auf die Bühne trat, aber genauso gut hätte ich mir das einbilden können, weil ich wollte, dass es ihm nicht doch vollkommen egal war.

Und plötzlich war es zu spät, um loszuheulen. Stattdessen nahm ich mir ein Beispiel an Lane und konzentrierte mich auf anderes. Darauf meine Choreographien zu perfektionieren, darauf immer genau zu wissen, wann ich wo, welches Requisit hinbringen musste, darauf jede meiner Gesten zu verinnerlichen. Wenigstens musste ich mir keine Sorgen mehr machen um meinen Monolog. Manons Verzweiflung, dass Mathis sich einen Dreck um sie scherte, konnte ich irgendwie ganz gut verstehen.

Einen Vorteil hatte die Intensität der letzten Probenwoche: niemand, aber auch wirklich niemand, nicht mal Elenora, bemerkte, dass Lane und ich nicht mehr mit einander sprachen, wenn wir durch die Szene nicht dazu genötigt wurden. Entsprechend stellte auch niemand Fragen, die ich nicht beantworten wollte.

Trotz meinem konstanten Verlangen entweder Boxstunden zu nehmen oder schreiend einen Hügel hinunterzulaufen (wobei ich vermutlich für keine dieser beiden Aktivitäten über die nötige Kondition verfügte), neigten sich die Tage bis zur Hauptprobe schnell dem Ende zu.

Hauptproben sollte man grundsätzlich verhauen. Woher dieser Theater-Aberglaube stammte, wusste ich nicht, aber grundsätzlich bedeutete eine miese Hauptprobe, dass die Aufführungen umso besser wurden. Das lag vermutlich daran, dass man die Schauspieler nach versemmelter Probe sich so sehr zusammenrissen und noch den hintersten und letzten Funken Motivation zusammenkratzen, dass die Aufführungen gar nichts anderes werden konnten als hervorragend. Insofern verstand ich wohl doch, woher dieser Glaube kam.

Mich in Manons Kleid zwängend (das Ding war zwar super elastisch und somit auch echt zum Tanzen geeignet, aber rein- und rauszukommen war mit dem Stoff echt kein Spaß) rief ich mir meine ersten Zeilen ins Gedächtnis. Es beruhigte mich sie immer und immer wieder aufzusagen. Mein ganz persönliches Manon-Mantra sozusagen.

Nichtsdestotrotz begann ich meinen ersten Auftritt nicht mit Text, sondern mit einem Tanz. Ich durfte das Theater eröffnen, was mich einerseits ganz schön stolz machte und andererseits doch ein bisschen verängstigte. Auf jeden Fall war klar, dass Stolpern keine Option war. Unter keinen Umständen.

In der ersten Szene tanzte Manon ihren Part in einer Oper. Dabei würde Mathis, der mit seinen Freunden vom Geschäft der Oper einen Besuch abstattete, sie bemerken und Gefallen an ihrem leidenschaftlichen Tanz finden. Doch während sie sich später hoffnungslos in ihn verliebte, interessierte ihn nie mehr als ihr Tanz. Ein ganz schön trauriges Stück, wenn man bedachte, dass Manon am Ende des dritten Aktes auch noch erfuhr, dass Mathis in Wahrheit verheiratet war (dass diese Ehe nicht besonders gut lief, musste wohl nicht extra erwähnt werden).

Tja, alles in allem musste ich eigentlich froh sein, dass ich nicht Manon war. Meine Lage war vielleicht nicht gerade rosig, aber immerhin hatte niemand Ehebruch begangen. In dem Sinne war ich eigentlich noch im grünen Bereich der Krisen (was mir trotzdem nicht half, mich besser zu fühlen).

Ehe ich mich aus meinen tristen Gedanken lösen konnte, ging plötzlich der Vorhang auf und die Scheinwerfer an. Die Hauptprobe begann und ich hatte noch nicht mal irgendjemandem Hals- und Beinbruch gewünscht. Eine großartige Kollegin war ich.

Die Musik setzte ein und ich streifte die Trübsal blasende Jolina ab, um mich voll und ganz auf Manon einzulassen. Sie und auch die Gesamtheit meiner Mitschauspieler hatten es verdient, dass ich für den Moment meine eigenen Probleme beiseitestellte und nur auf die Produktion konzentrierte.

Trotz meines guten Vorsatzes war die Hauptprobe ein einziges Desaster. Fairerweise sollte ich anmerken, dass das meiste davon nicht mal wirklich meine Schuld war, aber zu behaupten, dass ich meinen besten Auftritt hinlegte, wäre genauso gelogen.

Erst funktionierte plötzlich einer der Scheinwerfer nicht mehr, dann vergaß Alonso seinen Einsatz. Später fehlte ein Stuhl, den niemand finden konnte, ehe jemandem auffiel, dass in der Szene gar kein weiterer Stuhl vorkam, sondern eine Holzbank. Kurz darauf verpatzte ich meinen einen Tanz und landete entsprechend grazil wie ein Elefant auf meinem Hinterteil. Und danach begannen Lane und die Schauspieler, die Mathis' Kumpels verkörperten, plötzlich eine Szene aus dem dritten Akt, obwohl wir doch noch immer am zweiten probten.

Und das war nur die erste Hälfte des Stückes.

In der Pause redete Mr. Adams kein Wort. Wir wussten, dass wir uns eigentlich freuen sollten, dass er uns wenigstens einmal eine Verschnaufpause gönnte. Wir wussten aber auch, dass er vermutlich nur nichts sagte, weil er mit seiner Weisheit am Ende war und uns allesamt als talentlos abgeschrieben hatte (warum waren im Theaterbusiness nur immer alle so theatralisch?).

Die zweite Hälfte find auch nicht besser an. Elenora knallte mit dem Knie so hart gegen eine der Beleuchtungen hinter der Bühne, dass wir fürs Umbauen kein Licht mehr hatten. Dann verdrehte ich meinen Monolog doch noch, obwohl Kacy mich doch dabei unterstützt hatte, mir den gesamten Monolog Stück für Stück in mein Gehirn einzuhämmern. Und dann kaum auch schon Akt Drei, Szene Sieben. Und das erste Mal, seit wir diese Szene probten, waren Lane und ich perfekt.

»Ich möchte dich küssen, Manon.« Er lächelte sie an, ein zartes, einfühlsames Lächeln, weil er wusste, dass sie es brauchte, die Aufmunterung, die Besänftigung. Hätte sie ihr Herz nicht längst vollkommen an ihn verloren, wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass sich sein Lächeln nicht bis in die Augen ausbreitete. Seine Augen blieben kalt und leer, während ihre im Schein des Feuers noch mehr funkelten.

»Was hält dich davon ab?«, fragte sie unschuldig. Die Unsicherheit hinter ihren Worten war noch immer zu hören, doch er beschloss nicht hinzuhören. Fast flehentlich öffneten sich ihre Lippen. Als könnte sie den Kuss bereits fühlen. Er strich ihr über die Wange, liebkoste ihre warme Haut.

»Nichts.« Und dann küsste er sie. Zurückhaltend wie ein wahrer Gentleman, den er nun mal zu mimen versuchte. Seine Lippen waren weich und legten sich zärtlich auf ihre.

Und zum ersten Mal, als ich Lanes Lippen auf meinen spürte, fühlte ich die Ablehnung und die Berechenbarkeit. Für einen Moment erlaubte ich mir, Manon gehen zu lassen, weil ich einfach wissen musste, ob hinter Mathis' Maske doch noch etwas von dem Lane erkennen konnte, der sich durch einen Bühnenkuss derart aus der Fassung hatte bringen lassen. In dessen Augen ein Feuer gelodert hatte, hervorgerufen durch nichts weiter als einen unschuldigen Kuss.

Doch als ich die Augen öffnete fand ich in Lanes wunderschönen Augen nichts als Kälte. Als würde er sich nicht mal mehr erinnern, dass da einst Leidenschaft gewesen war.

Und dann war es plötzlich gleichgültig, ob er nun Lane war oder Mathis. Alles was zählte war der Schmerz, von dem ich nicht wusste, ob es meiner war oder Manon. Alles, was ich wusste, war, dass ich verzweifelt war, wie noch nie. Und ich spielte, wie ich noch nie gespielt hatte.

Jaune CanariWo Geschichten leben. Entdecke jetzt