Ich sehe was, was du nicht siehst

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Dieses Kapitel widme ich all denen, die vor Prüfungen stehen und genauso verzweifelt sind, wie ich es mittlerweile bin. Für uns alle, die es hoffentlich doch noch durch alle Prüfungen schaffen werden.

Ich sehe was, was du nicht siehst
Jolina

Allzu bald erreichten Lane und ich das Einkaufszentrum, von dem er gesprochen hatte. Wir unterbrachen das Imitier-spiel und traten durch die gläserne Drehtür. Staunend sah ich mich um. Das Gebäude war nicht nur riesig, sondern auch komplett mit Möbeln und Hauszubehör gefüllt. Ich bezweifelte, dass wir die Abteilung mit den Laken überhaupt finden würden, doch Lane schlug zielstrebig einen Weg ein.

Ich hatte angenommen, dass er uns zu den Laken führte, doch ich musste bald erkennen, dass er – trotz seines zielstrebigen Gangs – nicht den geringsten Schimmer hatte, wo er eigentlich hinging. „Hier muss doch irgendwo die Auskunft sein", grummelte er fast schon verzweifelt. Kichernd zeigte ich auf ein Sofa, das die Form einer Kuh aufwies und in den Farben eines Giraffenfells gefleckt war.

„Ich weiß absolut nicht, wie jemand darauf gekommen ist, aber brachst du eine Kuh-Giraffe?", versuchte ich so ernst wie möglich zu fragen. Das Grinsen konnte ich dabei jedoch nicht unterlassen. Lane sah sich um, seine Augen fanden das tierisch verunstaltete Sofa und er lachte los.

„Man findet hier wirklich so einiges... Lass uns ein Spiel spielen!", rief er plötzlich hellbegeistert.

„Was für ein Spiel?", wollte ich erst wissen. Ich wusste nicht, was Lane sich unter einem Spiel vorstellte, deshalb musste ich erst wissen, was genau ihm vorschwebte, bevor ich in irgendwas einwilligte. Nicht dass ich noch der Ausübung eines schrägen Fetisches zustimmte. Sobald mir dieser Gedanke durch den Kopf gejagt war, fragte ich mich, ob Lane überhaupt einen schrägen Fetisch besaß. Er schien auf den ersten Blick nicht der Typ dazu zu sein, aber genau die waren doch die schlimmsten. Die, die unschuldig lächelten, bevor sie die Kettensäge anwarfen...

„Bist du noch hier?" Lanes Stimme riss mich aus meinen durchaus verstörenden Gedanken. Ich wollte ihm antworten; das wollte ich wirklich; ihm eine schlagfertige Antwort an den Kopf schleudern. Nur war sein Gesicht dem meinen ziemlich nah. Das und die Tatsache, dass sein Daumen leicht wie ein Schmetterling auf meiner Wange ruhte, ließ meine Lippen augenblicklich austrocken, als wäre ich wochenlang durch die Wüste gewandert. Ich kam nicht umhin, in seinen tiefblauen Augen zu ertrinken.

Er erwiderte meinen Blick so intensiv und aufrichtig, dass es mir den Atem verschlug. Wäre ich in einem Film, wäre dies wohl der Moment, in dem die Feuerwerkskörper über uns explodierten und uns in ein buntes Farbenspiel hüllten, während wir der Magie des ersten Kusses verfielen. Unsere Augenlieder würden zufallen und ich den Geschmack seiner Lippen auf meinen kosten – nur befand ich mich eben nicht in einer Hollywoodschnulze.

„Ich fliiiiieegeeee", kreischte das Mädchen, das zwischen uns durchschoss. So niedlich die Kleine mit ihren glitzernden Feenflügeln zwischen den Möbeln tobte, so unschuldig ihre roten Wangen vor lauter Freude schimmerten, so ansteckend ihre Glückseligkeit auch war – ich konnte ihr die Konsequenz ihres Feenflugs nicht verzeihen. Sie hatte nicht nur dafür gesorgt, dass Lane und ich auseinander gesprungen waren, nein, sie hatte sich in ihrer kindlichen Unwissenheit auch noch seine gesamte Aufmerksamkeit gesichert.

In der ersten Sekunde verfluchte ich das Mädchen. Da dieses jedoch keine Schuld traf, verfluchte ich eben Lane. Nur konnte der ebenso wenig etwas dafür, dass ich über die sagenhafte Selbstbeherrschung eines Schwamms verfügte. So verfluchte ich nicht das Mädchen oder ihn, sondern mich und die verdammten Hormone, die mir die Kontrolle über meinen Körper vollkommen entrissen hatten.

Jaune CanariWo Geschichten leben. Entdecke jetzt