Wenigstens flog der Kuchen nicht

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Für alle, die jetzt echt gerne Tiramisu hätten.

Wenigstens flog der Kuchen nicht
Jolina

Obwohl ich nichts lieber getan hätte, als mich auf mein Bett zu werfen und für die nächsten achtundvierzig Stunden in ein erholsames Koma zu verfallen, bevor die nächste Woche voller Proben und viel zu wenig Schlaf anbrach, zwang ich mich, mir eines meiner besseren Outfits überzuziehen (wobei besser hier wohl sehr subjektiv ist, immerhin befanden sich in meinem Schrank gerade noch drei Oberteile, weil ich einfach viel zu erledigt gewesen war, um die Wäsche zu machen).

Ich hatte mich mit meiner Tante zum Abendessen verabredet und ich freute mich durchaus Jenna zu treffen, aber gegen Schlaf hätte ich wirklich auch nichts einzuwenden gehabt.

Eine kurze Verabschiedung durch die Wohnung rufend, auf die eine Antwort ausblieb, da Kacy noch immer beim Training war und Pam vermutlich viel zu tief in einer ihrer Welten (oder Serien) versunken war, um auch nur einen Pieps aus der Realität mitzubekommen, zog ich die Tür hinter mir ins Schloss und humpelte die Treppen hinunter. Mein Fuß tat sich immer noch bisschen schwer, aber immerhin war ich die Krücken und die riesige Schiene letzte Woche losgeworden. Eine Stütze half mir, den Fuß nicht zu sehr zu belasten, aber der Arzt hatte mir versichert, dass ich in ein bis zwei Wochen gar nichts mehr brauchte, dass mich vor einer Überstrapazierung bewahrte.

Einerseits freute ich mich darauf meinen Fuß bald wieder voll einsetzten zu können, andererseits bedeutete es auch, dass ich anfangen musste, für meine Tanzszenen als Manon zu trainieren und würde ich behaupten, dass ich davor keinen Bammel hatte, wäre das definitiv eine Lüge.

Nicht mal zwei Minuten nachdem ich aus der kleinen Eingangshalle ins Freie getreten war, fuhr ein Taxi vor, dass Jenna geschickt hatte. Ich hatte versucht sie davon zu überzeugen, dass ich sehr wohl zu Fuß zum Restaurant gehen konnte (immerhin waren es nicht mal zwanzig Minuten Fußweg), aber meine Tante hatte darauf bestanden. Ich hätte meinen gesunden Fuß darauf verwettet, dass meine Mutter etwas damit zu tun hatte.

Ich ließ mich die fünf Minuten durch meine Nachbarschaft chauffieren, bedankte mich höfflich beim Taxifahrer, versuchte ihm ein bisschen Trinkgeld zu geben, aber offenbar hatte Jenna ihn nicht nur im Voraus für die Fahrt bezahlt, sondern ihm auch dafür Trinkgeld gegeben, dass er von mir keins annahm.

Das Restaurant, das sich Jenna ausgesucht hatte, mochte ich auf Anhieb. Die Atmosphäre war gemütlich und doch irgendwie künstlerisch – ich fühlte mich augenblicklich wohl zwischen den Fotografien von den verschiedensten Menschen, die die Wände schmückten. Alle Fotografien schienen auf der Straße aufgenommen worden zu sein und bei keinem der Portraits schien es sich um ein gestelltes Shooting zu halten, eher um Passanten, die sich spontan dazu bereit erklärt hatten, sich ablichten zu lassen.

Die Bilder bewundernd, bewegte ich mich in den hinteren Teil des Restaurants, wo mich meine Tante erwartete. Zu meiner Überraschung fand ich Jenna nicht alleine am Tisch vor. »Mason!«, begrüßt ich meinen Onkel. »Ich wusste nicht mal, dass du in der Stadt bist, geschweige denn dass du zum Abendessen kommst!«

»Ich wusste es auch nicht«, sagte Jenna und besah ihren Ehemann mit einem Blick, als hätte er höchstpersönlich die Sonne zum Leuchten gebracht. Die beiden waren eins dieser Pärchen, bei denen man nicht wusste, ob man sich für sie freuen sollte, oder ob man sich auf Diabetes testen lassen möchte.

»Überraschungen müssen nun mal sein«, verkündete Mason und erhob sich, um mich in eine seiner Umarmungen zu ziehen. Jenna tat es ihm gleich und drückte mir einen übertriebenen Kuss auf die Wange, wobei ich genau wusste, dass sie dies nur tat, weil es mich schon als Kind in den Wahnsinn getrieben hatte. Ich verdrehte als Antwort die Augen. Manches änderte sich wohl nie.

Eine halbe Stunde verging und das Essen, das wir bestellt hatten, ließ nicht lange auf sich warten. Schon nach den ersten Bissen schwebte ich im kulinarischen Himmel. Das Essen war hervorragend (und das sagte ich nicht nur, weil ich kaum was anderes als labbriges Toast gegessen hatte).

Die Müdigkeit fiel von mir ab, je weiter der Abend fortschritt; Jenna und Mason wussten immer die interessantesten Geschichten zu erzählen. Ich bemerkte gar nicht wie die Zeit verflog, aber offenbar hatten wir so lange dagesessen, dass sich unser Kellner verabschiedete und uns darauf hinwies, dass seine Schicht sich dem Ende neigte und einer seiner Mitarbeiter sich nun um uns kümmern wurde.

Während wir ihm noch unsere Bestellung für das Dessert aufgaben (ich wusste noch nicht, wo in meinem Magen noch Platz sein sollte für Dessert, aber wenn das Tiramisu, das ich bestellte, auch nur halb so gut war wie der Hauptgang, dann hätte es sich gelohnt, mich deswegen wie einen Zeppelin zu fühlen), schob ihm Jenna ein Trinkgeld zu, obwohl wir die Rechnung noch nicht beglichen. Masons Anwesenheit schien ihre spendable Seite zum Vorschein zu bringen.

Es gab schon immer Momente in meinem Leben, bei denen ich mich fragte, ob sie nur geschahen, weil ich mich mit Zwölf geweigert hatte diese Kettenbriefe weiter zu schicken, die die wahre Liebe oder jahrelanges Pech versprachen. Dies war eindeutig einer dieser Momente. Als ich aufstand, um die Toilette aufzusuchen, im exakt selben Augenblick, in dem unser Dessert gebracht wurde, und ich (selbstverständlich, wie könnte es auch anders sein) dem Kellner fast die Teller aus den Händen riss, ja, da war ich mir sicher, dass die Briefe daran schuld waren.

Als ich mich dann unter tausend Entschuldigungen dem Kellner zuwandte und niemand anderen vorfand als Lane, fragte ich mich, ob es nicht nur an den Briefen lag, sondern ich in einem vergangenem Leben auch so viel schlechtes Karma angesammelt hatte, dass ich in meinem jetzigen Leben mit Scheinwerfern beworfen und von einem peinlichen Moment in den nächsten befördert wurde.

Wenigstens sah Lane genau so perplex aus wie ich. Ein wahrlich kleiner Trost, da er sich bereits in der nächsten Sekunde fing, mich strahlend anlächelte, während ich etwas murmelte wie »Muss pinkeln« und schleunigst davonstob, um mich für immer zu verschanzen. Ich hoffte, dass ich eines Tages mein Leben so führen konnte, dass ich nicht dauernd den Wunsch verspürte mich in öffentlichen Toiletten vor der Welt zu verstecken.

Als ich zu unserem Tisch zurückkehrte, war Lane in ein tiefes Gespräch mit Jenna und Mason vertieft (hatte er niemand anderen, den er bedienen konnte?). Ich beschloss einfach nicht dergleichen zu tun, als wäre etwas passiert, wofür ich mich schämen müsste. So versuchte ich Lanes Lächeln von vor fünf Minuten zu erwidern (und dabei nicht auszusehen, als hätte ich Magenkrämpfe).

Das Lächeln verschwand ziemlich schnell von meinem Gesicht, als Jenna total aufgeregt erzählte: »Wusstest du, dass Lane die ganzen Fotografien gemacht hat?« Ich verneinte so höfflich wie möglich, während ich mir innerlich vorstellte, wie ich mit einem Kamerastativ auf ihn eindrosch und das Talent aus ihm herausprügelte, sodass er sich in einen Normalsterblichen verwandelte.

Jaune CanariWo Geschichten leben. Entdecke jetzt