Kapitel 6

68 5 0
                                    

Die Zeit verflog schnell und wir wurden größer und begannen mit ca. drei Monaten zu grasen. Nun fragte ich mich, warum ich das nicht vorher schon getan hatte, denn die saftige Wiese schmeckte sehr gut. Wahrscheinlich lag das aber auch an meinen Zähnen, mit denen ich noch gar nicht richtig kauen konnte.

Ich stand eines morgens, als Dan noch nicht da war draußen auf dem Paddock und beobachtete neugierig, was in den frühen Morgenstunden geschah. Vögel zwitscherten in den Bäumen und eine warme Briese wehte um mich herum. Die Sonnenstrahlen der morgendlichen Sonne kitzelten mein Fell und meine Nüstern. Auf dem Hof waren erst die wenigsten Leute, doch schließlich gesellte sich Tinka zu mir. Ich begrüßte sie und freute mich sie zu sehen. Meine Mutter stand in der Box und fraß Heu, genauso wie Estelle, wie sie es die meiste Zeit übertat, wenn sie in der Box stand.

Dann viel mir meine Frage ein, dich ich schon seit einer Weile vergessen hatte. Ich ging sicher, dass meine Mutter mich nicht hörte und erhoffte mir bei Tinka eine Antwort, die ich schon so oft von meiner Mutter erwartet hatte.

Einen Moment überlegte Tinka, dann sagte sie: „Weißt du, Estelle hatte es nicht leicht, bevor sie hierherkam."

Ich spitzte meine Ohren, um ja kein Wort zu verpassen und schaute sie gespannt an.

Tinka machte eine kurze Pause, bis sie fortfuhr: „Als kleines Fohlen wurde sie schon viel zu früh von ihrer Mutter getrennt. Ich glaube, sie war damals so alt wie du jetzt"

Mich schauderte es. Jetzt schon, ohne meine Mutter auskommen zu müssen fände ich ganz und gar nicht schön. Arme Estelle.

„Aber wieso?", fragte ich Tinka, bevor sie weitererzählen konnte.

„Ich weiß es nicht", sagte sie wahrheitsgemäß.

Estelles Ohren zuckten in unsere Richtung und ihre Muskeln spannten sich kurz an.

Es musste sie viel Mut gekostet haben, was sie jetzt tat. Langsam kam sie auch auf den Paddock hinaus. Sie musterte uns angespannt und sagte zögerlich: „Wenn ihr wollt...wenn ihr wollt erzähle ich euch die Geschichte."

Ganz erstaunt blickten wir gleichzeitig zu ihr hinüber. So viele Wörter hatte ich noch nie aus ihrem Maul gehört. Und es würden noch mehr werden. Selbst meine Mutter war erstaunt nach draußen gekommen, als sie ein paar Worte von Estelles heller Stimme gehört hatte, auch wenn sie sehr leise gewesen waren. Estelle senkte den Kopf und scharrte verlegen mit dem Huf und ein paar kleine Steinchen flogen unter dem Zaun hindurch und ließen zwei Vögel, die dort etwas zu Fressen gefunden hatten, aufschrecken.

Dann warf Estelle einen scheuen Blick zu uns.

Fragend sahen wir sie alle an, doch das machte sie wohl etwas nervös, denn sie begann auf ein paar Grasbüscheln herum zu kauen.

Nach ein paar zweifelnden Momenten begann sie zu sprechen: „Ich lebte als kleines Fohlen auf einem kleinen Privatgrundstück mit meiner Mutter Encora und meiner Halbschwester Equina. Equina war drei Jahre älter als ich, sodass unsere Besitzerin Tara schon mit dem Einreiten begonnen hatte."

Einreiten, was war das? Ob das wohl eine Ausbildung war oder ein Abzeichen?

„Ich war drei Monate alt, als meine Mutter an einer Kolik starb, die Tara nicht bemerkt hatte. Meine Mutter war schon etwas älter und bemühte sich durchzuhalten, doch es war klar, dass sie es ohne Medikamente nicht schaffen würde"

Arme Estelle. Sie tat mir so leid und ich bemerkte für einen kurzen Moment den Schmerz in ihren Augen. Es musste für sie schon schlimm genug sein den Mut aufzubringen, um uns die Geschichte zu erzählen und sich alle Details wieder erinnern zu müssen.

Estelle machte eine kurze Pause, bevor sie wieder sprach. Ein leiser, brüchiger Unterton hatte sich in ihre Stimme geschlichen.

„Ich brauchte eine Pflegemutter, doch Stuten die ihr Fohlen verloren hatten waren schwer zu finden und Tara hatte auch kein Geld sich noch ein Pferd anzuschaffen.

Es dauerte drei ganze Wochen, bis Tara jemanden fand, solange musste sie mich mit der Flasche ernähren und das war gar nicht schön. Außerdem war Equina jeden Tag beim Einreiten, so war ich oft allein auf der Wiese.

Der Hacken war, dass der Besitzer der Stute fünf Stunden entfernt von uns lebte und ich zu ihm gebracht werden musste.

Ich war sehr traurig, als ich auch noch Equina verlor und nach der langen, erschöpfenden Fahrt mit dem Pferdeanhänger, in den ich davor erst einmal zuvor zur Übung gestiegen war, auf einem völlig fremden Hof, mit unbekannten Pferden und unbekannten Gerüchen anzukommen. Wir mussten alle zwei Stunden stoppen, damit Tara mich füttern konnte. Als sie mich in den Stall führten, konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Eine große Box mit einer großen gescheckten Stute, Varis, wurde aufgeschoben und ich wurde hineingeführt. Nachdem mir das Halfter ausgezogen wurde, legte ich mich auf den Boden und versank sofort im Halbschlaf"

Das Ganze war grausam, als ich es mir vor Augen führte. Getrennt von ihrer Mutter und Schwester, fünf Stunden von ihrem zu Hause entfernt. Für ältere Pferde konnte es nicht so schlimm sein umzuziehen, denn ich hatte schon manchmal ein neues Gesicht gesehen, dass zu uns auf den Hof kam, aber sie musste ja umziehen, als sie so alt war wie ich nun.

„Als ich wieder aufwachte, beschnupperten wir uns. Sie roch irgendwie komisch und sie war auch nicht so sympathisch. Varis ließ mich zwar immer trinken und war nett zu mir, wenn ich etwas brauchte, aber die meiste Zeit stand sie draußen am Paddock und unterhielt sich mit den Pferden neben uns."

Das musste schrecklich für sie gewesen sein. Ich konnte es mir nicht einmal vorstellen, ohne meine Mutter zu leben.

„Als ich schließlich alt genug war, wurde ich von Varis abgesetzt, was gar nicht so schwer war, denn ich vermisste sie nicht.", fuhr Estelle fort, „Einen Monat später wurde ich auf einer Fohlenshow vorgestellt.

Dort war ich mit drei anderen Fohlen in einem Paddock, bis es losging. Alles roch seltsam und viel Leute kamen zu uns hin, um uns anzusehen. Anschließend wurde ich von einer jungen Frau abgeholt. Ich war sehr nervös, weil ich so etwas noch nie gemacht hatte. Sie führte mich über den Platz, mal im Schritt, mal im Trab und so erhielt ich die Staatsprämie. Am selben Tag gab es noch Interessenten für mich und bald wurde ich weiterverkauft und am Ende war ich hier gelandet."

Ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet. Estelle starrte auf den Boden, drehte uns den Rücken zu und verschwand in ihrer Box.

In der nächsten Zeit bekamen wir sie nicht mehr zu Gesicht. 

Nakitor II DeutschWo Geschichten leben. Entdecke jetzt