Teil 2: Theo und das Mädchen

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»Wo bleibt er denn?«, fragte meine Mutter ungeduldig. Wir standen vor meiner Haustür und warteten darauf, dass mein Vater uns die Tür öffnen würde. Hektors Arm war noch über meine Schultern gelegt, ich hatte ihn den Weg von der Polizeistation bis zu mir nachhause gestützt. Mein ganzer Rücken brannte schon vor Schmerzen, aber ich wusste, er würde das Gleiche für mich tun.

Hektor und ich waren den gesamten Nachhauseweg über still. Meine Mutter war die Einzige, die etwas gesagt hatte. »Wir sind gleich da«, »Wir haben es gleich geschafft«, als würde ich nicht wissen, wo wir wohnten. Sie machte sich natürlich nur Sorgen.

Wegen des Regens waren Hektor und ich mittlerweile wieder klitschnass. Auf halber Strecke hatte meine Mutter uns ihren Plastikkittel über die Köpfe gelegt, dieser wurde allerdings zwei Sekunden später vom Sturm in die Ferne gerissen.

Mit einem Summen öffnete sich langsam die Haustür. Ungeduldig drückte meine Mutter dagegen.

»Davon geht die Tür kaputt«, flüsterte ich hinter ihr. Wir hatten die elektronische Tür nach dem Unfall meines Vaters einbauen lassen, so musste man zum Öffnen von innen nur einen Knopf neben dem Hauseingang drücken. Richtige Schlüssel hatten wir seitdem auch nicht mehr, lediglich einen Chip, der von Außen an einen Sensor gehalten wird, damit sich die Tür öffnete. Meine Mutter hatte diesen vor lauter Panik zu Hause vergessen, also mussten wir auf meinen Vater warten.

Er saß in seinem Rollstuhl. Auf seinem Schoß hatte er eine Uhr liegen, vermutlich wieder eine kleine Handarbeit, die er für unsere Nachbarn reparieren sollte.

»Oh mein Gott«, erschrocken musterte er uns, »was ist passiert?«

»Keine Zeit für Erklärungen«, schroff schob meine Mutter ihn aus dem Weg, und lotste uns ins Haus. »Ich hole erst mal Handtücher und lasse ein Bad ein«, sie wandte sich zu meinem Vater, »Erik, du versorgst Hektors Wunde.«

»Mein Vater hatte die Wunde schon-«.

»Ruhig, Hektor, streng dich nicht an«, unterbrach meine Mutter ihn und deutete auf die Küche. Anschließend verschwand sie im Badezimmer.

Unser Zuhause war nicht sonderlich groß, aber reichte vollkommen aus. Hinter der Eingangstür führte ein langer Flur, durch das gesamte Haus. Von ihm aus gingen alle Zimmer ab, das Badezimmer, das Schlafzimmer meiner Eltern, das Arbeitszimmer meines Vaters und das zweite Bad. Gegenüberliegend war die Küche oder Esszimmer, mein Zimmer und schließlich das Zimmer von Sebastian, meinem Bruder. Ganz am Ende des Flures war das Wohnzimmer.

»Theo, hilf mir mal bitte«, rief mein Vater aus der Küche, der gerade probierte einen Holzstuhl umzudrehen. Ich eilte zu ihm und drehte den Stuhl vom Tisch weg. Ich schnappte mir Hektor.

»Ich will die Wunde sehen«, brummte mein Vater. Ohne zu Zögern, zog Hektor seine schmutzige, zerrissene Jeans aus. Dann half ich Hektor dabei, die Schuhe auszuziehen, damit wir seine Sachen trocknen konnten. Danach zog ich meine Schuhe aus und legte alles auf die Heizung in der Küche.

Hektor stand wie angewurzelt vor dem Stuhl. Mein Vater bemerkte, dass seine Unterhose ebenfalls nass war. Er griff nach dem Geschirrtuch und breitete es auf dem Stuhl aus.

»Setz dich«, forderte er Hektor auf.

»Wer hat das getan?«, murmelte Hektor und schaute zu mir hoch. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf.

Nur zu gerne wüsste ich die Antwort auf diese Frage. Wer würde unsere Klassenlehrerin so zurichten? Natürlich wussten wir nicht, wie das Privatleben von Frau Gabrowski aussah, aber so einen Tod hatte sie nicht verdient. Sie war eine stets bemühte und gute Lehrerin.

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